Keitumer Predigten Traugott Giesen 31.12.1998
Silvester
Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen!Lobe den Herrn, meine Seele:
Was für ein Glück, jetzt zu mir zu kommen; denn Gottesdienst
ist Schutzraum für Innen. Die Melodien, die Texte lassen mich als
Person gelten, heben mich in ein Licht, das mich einzeln und einzig macht.
Du, lobe den Herrn!
Lobe � ob den Herrn oder ohne das verdorbene Wort, dein Gott, deine
Gottheit weiß dich, egal bei welchem Namen du ihn, sie, es nennst.
Die Energie, die dich will und damit ins Sein hebt, Sterne und Löwen
und Löwenzahnsamen. Ehe ich daran zweifelte ob Gott ist, würde
ich eher zweifeln, ob die Welt da ist oder nicht doch nur ein Traum ist.
�Was wir alle getrennt sind, das ist er in einer Person" (Musil). Daß
er auch wagte, dich ins Sein zu rufen, in dir wirken und empfinden will
� wie gehst du damit um, daß du selbst ein Versprechen bist, dein
Antlitz etwas von Gottes Seinslust abstrahlen soll � wie damit leben?
Lobe, staune, danke, schmeiß dich in Wonne, fast egal bei welchen
Vergünstigungen des Lebens du sie erlangst. � Lobe, danke, sei gern
du. Merk auf dich, du bist so voll Lust, gern hier zu sein auf dieser Erde,
mit deinen Gebrechen, deinen Mankos, deinen Einsprüchen und doch �
gern du. Das ist das Lob, von dem Gott sich nährt � daß seine
Kreaturen gern sie selbst sind. Und er hat mich, dich gemacht, weil diese
eigenwillige Sorte Mensch, ich/du, ihm Spiegel ist für ein Eigenes,
das nur er weiß. Lobe den Herrn. �
Und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat und tun wird.
Manchmal sind wir wie Pferde mit Scheuklappen. Die sollen nur den Teil
der Wirklichkeit sehen, der nötig ist, um sie auf dem Weg zu halten.
Aber wenn wir nur sehen den Teil, der zu meiner ausschließlichen
Nützlichkeit eingerichteten Wirklichkeit gehört, dann sind wir
doch etwas reduziert, und unser Lob wird�s dann auch. Das Gute, das uns
getan ist, ist doch riesig, verglichen mit dem Schädlichen. Aber wen
es schwer traf � eigenartig, er wird sowas wie entschädigt. � �Das
Leben sorgsam liebt, wer das Entsetzen überstanden hat.�
Gutes getan hat und tun wird. � Solange etwas ist, ist es nicht das,
was es gewesen sein wird. Wenn etwas vorbei ist, ist man nicht mehr der,
dem es passierte. Martin Walser sagt es so � und treibt mir die Zeit in
den Sinn, die Verwandelkraft mittels vergehender Zeit � was ist, ist in
einer Woche anders, weil wir eine Woche lang die Wirkung dessen, was ist,
ausgehalten haben und darunter anders wurden. Vergiß nicht: Du, wir
sind ja Teilhaber eines gemeinsamen Schicksalraumes, sind unterschwellig
an allem mitschuld was ist, sind auch von allem Guten die Begünstigten.
Wir sind schon eine Haftungsgemeinschaft � und die Angst ist allgemein,
die Verantwortung für die kleine Erde auch. Manches vom alten Jahr
hat sich eingebrannt. Eschede, neue Regierung, Jammer in Naturkatastrophen
� manches ist verweht. Aber alles geht ja weiter. Dies Weitergehen des
Lebens � wer Kinder bekam, wer gar großelterlich wurde, weiß
das Weitergehen hautnah, und wie wir Zukunft doch offen halten müssen
für die nächsten Generationen � mit Kindern, Enkeln zwingt sich
auf: vergiß nicht, was er dir Gutes tun wird. Dir, damit, daß
du den Kommenden Gutes geben kannst. Glück mit Kindern, Enkeln, auch
Wahlverwandten � nicht auszuschöpfen.
Ach ja, Gott, der du alle meine Sünden vergibst.
Das wäre mir ohne Vorlage meiner biblischen Vorfahren nicht als
erstes eingefallen � aber vielleicht ist es wirklich das Wichtigste: Dein
Vergeben � denn Vergeben ist ja Raum und Zeit für neue Erfahrung eingeräumt
bekommen. Und was habe ich wieder für ein Jahr Zeit bekommen für
gute Tat und Irrtümer, für Geschick und Versäumen � daß
Menschen mich noch mögen, noch grüßen, mich, dich noch
zu Besuch lassen, noch ein Stück Menschenwürde wir einander einräumten
wieder ein Jahr. � Es kommt doch davon, daß Du in die Welt pumpst
Deine Versöhne- und Verknüpfelust, Deine Lust auf Gemeinschaft.
Dank Dir für Vergebung und neuen Anfang und für Vergebekraft,
ein Stück großzügig werden � und Lassen, Lassen. � Du hast
es bereitet.
Und heilet alle deine Gebrechen �
meine, deine. � Es kann eine Wunde sein, die nie mehr weggeht � aber
doch bildet sich in der Zeit Häutchen um Häutchen � der schreiende
Schmerz wird linder. � Bilder von Heilen tauchen auf, andere Gaben und
Aufgaben werden in den Arm gelegt � anderes rückt in die Mitte � das
Leben geht weiter � ja auch grausam, auch atemberaubend. � Wir wollen die
Zeit zurückstelllen aber sind schon andere geworden � wir werden von
Dir, Gott, nach vorn gerissen, ein Sog des Neuen zwingt uns nach vorn.
Jetzt klarkommen, und dazu gabst Du mir die Kraft, die Freude, die Lust
weiterzumachen. Die Lust, es anders auch gut werden zu lassen � du hast
das Gebrechen genesen lassen, ein Stück. �Was wir alle getrennt sind,
das ist er in einer Person" (Musil).
Und der dein Leben vom Verderben erlöst.
Verderben ist verneint sein, verfallen, vergessen sein, gemieden sein
� du aber bist erlöst vom Verderben, du hast noch Berührung glücklich
genossen, du hast noch Zartsein als Ja und Amen auf deine Person erlebt.
Du hast noch den neuen Morgen als neue Berufung erlebt, du hast noch andere
trösten, stärken, trainieren, fördern können, hast
sie vom Verderben erlösen können, was ja die schönste Form
ist, erlöst zu werden.
Und du wirst gekrönt mit Gnade und Barmherzigkeit. �
Gekrönt � was für eine Aussicht, Zugehen auf sowas wie Vollendung.
Du � alle Katastrophenmeldungen laß vorbeirauschen � du glaube an
deine persönliche Bestimmung, daß Heil- und Ganzwerden dir bevorsteht
� und daß davon die Mitmenschen Nutzen haben.
Denn wohl prägt das allgemeine Schicksal auch das einzelne � aber
erst recht machen wir, jeder Einzelne mit seinem Mut und seiner Tatkraft
und seinem Gebet das geistige Klima. � Die andern haben viel davon, wenn
du dich zukunftsträchtig glaubst, wenn du dich freust aufs neue Jahr
und das große Fuder neue Zeit schon mit Lust vor dir siehst.
Das Gute mißfällt uns, wenn wir ihm nicht gewachsen sind,
sagt Nietzsche mal, � so manches Misanthrope, Maulen und Mäkeln scheint
mir der eigenen Unzufriedenheit zu entstammen, ebenso die Arroganz, die
doch Verkehrung von Scham ist. Statt an die eigene Nase zu packen, richte
ich Hohn auf andere. Dagegen hilft dieser Aufruf des eigenen Ichs: Du,
meine Seele, denk nicht schlecht von dir und darum auch von deinem Schöpfer.
� Denk bitte gut vom Leben. � Wer scharf denkt, wird Pessimist; wer tief
denkt, wird Optimist, sagt Henry Bergson, und wir sind hier, um einige
Tief in unser Denken zu lassen.
Loben wir den Zeitmacher, spüren wir die überschwengliche
Wunderbarkeit zu sein, wieder ein Jahr, dieses Jahr genossen und bestanden
zu haben. Es war ein weiter Raum � und bitten wir um noch ein weiteres
Jahr, um ein Jahr aus Seiner Hand, um weiten Raum � frei zu atmen und gern
ich, du zu sein. Amen.