17.01.1999 2. Sonntag nach Epiphanias
Das Gesetz ist gut, gut als Grenze, als Zaun, bis wohin man gefahrlos,
ja sorglos selbstvergessen tun und lassen kann, was und wie es kommt. Das
Gesetz ist Barriere, jenseits derer Gewalt und Frechheit uns wegreißen
können. Also nützlich sind die Gebote, aber unser Wesen können
sie nicht fassen. unsere Würde ist nicht aus Leistung und Gehorsam
beschafft. Sondern wir sind geliebt und gewollt und tun im Kern, was das
Gesetz sagt, ohne daß wir es buchstabengetreu kennen.
Keitumer Predigten Traugott Giesen
17.01.1999
Übet den aufrechten Gang!
Stärkt die müden Hände und die wankenden Knie und schafft Wege in der Gefahr. Bemüht euch um Frieden und um Heiligung für jeden Menschen. Achtet darauf, daß niemand die Gnade Gottes verfehle und daß nicht etwa eine bittere Wurzel wieder ausschlägt (Hebräer 12, 12 - 15). Richtet auf, die zerbrochenen Herzens sind und verkündiget den Gebeugten, daß sie frei und keines Besitz sein sollen (Jesaja 61, 1.2).
Und Jesus lehrte in einer Synagoge am Sabbat.
Und eine Frau war da, die hatte seit achtzehn Jahren einen Geist, der
sie krank machte; und sie war verkrümmt und konnte sich nicht mehr
aufrichten. Als aber Jesus sie sah, rief er sie zu sich und sprach zu ihr:
Frau, sei frei von deiner Krankheit! Und legte ihr die Hände auf;
und sogleich richtete sie sich auf und pries Gott.
Der Vorsteher der Synagoge aber war unwillig, daß Jesus am Sabbat
heilte, und sprach zu dem Volk: Es sind sechs Tage, an denen man arbeiten
soll; an denen kommt und laßt euch heilen, aber nicht am Sabbattag.
Da antwortete ihm Christus und sprach: Ihr Heuchler! Bindet nicht jeder
von euch am Sabbat seinen Ochsen oder seinen Esel von der Krippe los und
führt ihn zur Tränke? Sollte dann nicht diese, die doch Abrahams
Tochter ist, die der Satan schon achtzehn Jahre gebunden hatte, am Sabbat
von dieser Fessel gelöst werden?
Und als er das sagte, mußten sich schämen alle, die gegen
ihn gewesen waren. Und alles Volk freute sich über alle herrlichen
Taten, die durch ihn geschahen (Lukas-Ev. 13, 10 - 17).
Heute Nacht boxte Mike Tyson wieder. Er war lange gesperrt, er hatte
einem Gegner ein Stück Ohr abgebissen. Ich komme auf den Kerl nur
zurück, weil ich im Radio einen Reporter sagen hörte: �Der einstige
Boxstar, Muhammed Ali, hat sich dafür eingesetzt, daß er wieder
eine Chance bekommt; der bekennende Moslem�, so der Reporter weiter, �ist
von seiner Religion her überzeugt, daß in jedem Menschen ein
guter Kern steckt und auch Tyson ein Recht auf Bewährung habe�. �
Donnerwetter, dachte ich, wie stehen wir Christen denn da? Sind wir auch
vom guten Kern eines Jeden überzeugt?
Nimmt man etwa die Republikaner in den USA als Maß, � wie sie
Hexenjagd begehen gehen an Clinton � dann scheint Menschenverachtung um
des Gesetzes willen typisch christlich. Und Clinton haftet am Präsidentenamt,
will sich reinwaschen mit Meineid über Meineid � wie erniedrigt er
sich selbst � statt zu sagen: Wenn ihr mich in Liebessachen zwingt zum
Eid, dann nehm ich meinen Hut. Auch dieses Beharren auf Amt und Würden,
diese Halsstarrigkeit scheint mir erschreckend � beide Parteien wollen
das Gegenüber in die Knie zwingen.
Aber die Würde des Menschen ist doch höchster Glaubensschatz
der Christen.
Nach Gottes Bild geschaffen, wir ihm ähnlich, so hochmögend
soll vom Menschen gedacht sein. Sicher steht auch in der Bibel: �Das Dichten
und Trachten des Menschen sei böse von Jugend auf� (1. Mose 8, 21).
Aber es heißt auch, daß Gott gerade darum Gnade walten lassen
will. � Überragend heißt es in Psalm 8: �Du hast den Menschen
wenig niedriger gemacht als dich selbst; mit Ruhm und Ehre hast du ihn
gekrönt�. Und Jesus � am Anfang der Stall, am Ende der Galgen � zeigt,
wie Gott die Gedemütigten erhebt, die Armen ehrt, die geistig Bedürftigen
zu ersten Bürgern des Reiches erklärt.
Aber wir Christen haben die Würde des Menschen oft mit Füßen
getreten, � wichtiger als der Mensch scheint die Wahrheit, die Herkunft,
die Bildung, der Besitz. Auch in der Diskussion um die doppelte Staatsbürgerschaft
scheint es um die richtige Einstellung zu gehen, darum, wer ein richtiger
Deutscher sei. Um Glaubenssätze willen, gepaart mit Habgier wurden
Kriege geführt: Ob im Abendmahl Christus in Fleisch und Blut da ist
oder nur in Gedanken, das entzündete Kriege. Keine Glaubensgemeinschaft
hat erbitterter um die Wahrheit gestritten, ja, hat gemeint, man könne
Glaubensfragen mit Waffen entscheiden � darum gibt es auch so viele zersprengte
Kirchensorten.
Und wie nehmen wir einander Achtung und Würde weg: Mit Gewalt
einem den eigenen Willen aufzwingen, den seinen ihm brechen, einen Menschen
seinen Willen, seine Seele beugen...
Reißt das in uns ein Wissen auf? �Du bleibst im Keller, bis du
sagst, was war...�. � Harold Brodkey erinnert an Eltern: Sie konnten ihren
Machtimpulsen nicht widerstehen. Sie setzten unermüdlich ihren Status
als überlegene Kreaturen und ihren mentalen Durchblick ein; ach, ihre
strahlende Macht, ihre Strafbefugnis war riesig. Erinnerst du dich... Brodkey
weiter: �So viele Dinge im Leben sind nicht zu akzeptieren, also verweigert
man es, sich ihrer zu erinnern� � und wir bleiben gebeugt. Aber die Last,
die uns bedrückt, uns klein hält, uns ängstlich, störrisch
macht � ist sie denn noch aktiv, ist sie noch real?
Die Geschichte von Jesus und der gebeugten Frau ist eine Rettungsanweisung
bis heute.
Jesus lehrt ja die Freiheit des Reiches Gottes in einem Satz: Gott
liebt dich, darum ist aller Argwohn, du seiest nicht der Rede wert, falsch.
Jesus schaut die Menschen an, freien Blickes; Jesus nimmt aus dem Vis-à-vis
sicher auch Freude, aber ich denke mir, er wollte sie per Blick mit Zuversicht
betanken � auch Menschen von Bösem abhalten einfach schon dadurch,
daß er sie mit den Augen leitete.
Eine Frau fällt ihm auf, deren Blick er nicht fangen kann. Sie
geht gebeugt. Ihre Augen sehen nur Staub. Demütigend ist die Herabminderung
des Ichs dadurch, daß sie das Antlitz des Andern nicht leuchten sehen
kann. �Die Gesichter der Unbekannten, das verläßlichste Vergnügen�
so Peter Handke. � Die Frau kann einen nicht anschauen und bleibt auch
für den Andern verdunkelt, ist nah schon am Nichtvorhandensein.
Jede ernstzunehmende Krankheit spielt eine spezifische Rolle in der
Biographie des Patienten; was wohl machte die Frau krank?
Jesus spricht die Frau an, er ruft sie zu sich � ziemlich dringend,
drängend. Er spricht sie los: Sei frei von deiner Krankheit. Also:
Es ist an der Zeit, daß du deine Last verlierst. Was dich beugte,
sitzt dir nicht mehr im Nacken. Die Krankheit hat ihre Rolle ausgespielt.
Das innerlich Geducktsein sein kann tatsächlich sich niederschlagen
in körperlicher Verkrümmung. Sie kann ihres eigenen Leides nicht
ansichtig werden oder geht gebeugt, damit nicht mehr ihrem Gesicht anzusehen
ist, unter welchem Druck, Liebe zu erwecken, sie steht. Vielleicht will
sie auch lieber Staub schauen als dem Täter in die Augen. � Es kann
sein, daß man längst hat wegrennen müssen, aus der Ehe,
aus der Bindung an Eltern, die Kinder wie Leibeigene halten; es kann sein,
daß Töchter ihren Vätern zu Willen sind oder ihren Müttern
oder ihren herrischen Männern oder ihren frechen Kindern; Männer,
die sich knechten lassen, nur um ihren Status als Versorger nicht zu verlieren
� und sie alle haben keine Kraft, Remedur zu schaffen, sie beugen sich
ins Leid, bleiben im Joch � bis irgendeine Explosion passiert.
Oder bis Jesus oder ein Engel, ein rettender Mitmensch sagt: Sei frei
von deiner Krankheit und legt die Hände auf sie, und der Geist der
Krankheit entweicht.
Ich will nicht an magische Kräfte denken, die den Kreis rettender
Menschen eingrenzte auf wenige Übersinnliche. � Was Jesus tut, kann
jeder, der Gottes Lieben mitmacht. Jesus sagt auch: �Gehet hin und tuet
desgleichen� und versprach: �ihr werdet noch größere Dinge tun�
(Joh. 14, 12).
Sagen wir�s einander: Jetzt ist genug Last getragen. Jetzt hast du
genug Verkrümmung weggesteckt. � Jetzt wagst du den aufrechten Gang.
Du bist nicht allein. Du hast Menschen, die dir Hand auflegen und du bei
ihnen, Menschen, bei denen du unverpflichtende Nähe findest.
Jetzt bist du aus niederhaltender Ergriffenheit auferweckt. Beinahe
hättest du es für gerade recht gehalten, die Achtung der Menschen
einzubüßen und aus ihrem Gedächtnis beseitigt zu werden.
Aber von sofort an nicht mehr. Anerkennung umleuchtet dich. Du merke den
Hauch von Verehrung, der dich erreicht.
Anrührend, wie Menschen in Asien sich tief voreinander verbeugen.
Sie führen ihre aneinandergelegten Hände zum Mund und sagen soviel
wie: "Das Göttliche in mir grüßt das Göttliche in
dir.� � Sie respektieren den Nächsten und sich selbst, indem sie ihr
Verwandtmachendes benennen.
Unser Verbeugen, unser noch leicht den Kopf senken � auch beim Gebet
� meint, daß ich mich selbst zurücknehme, ein Stück Selbstbescheidung
walten lasse. Es ist das Gegenteil davon, den Andern zu verhöhnen
� eigenartig, daß wir den so ähnlichen Anderen verhöhnen
können. � �Nur der Mensch ist zu einer derartigen Selbstverachtung
fähig.� �Aber wir sind wohl das Wesen, das, solange es irgendwie geht,
vor sich selber ausweicht� (Cioran). � Darum hält auch das Geduckte
und Verhuschte vieler Leben so lange, was wiederum die herrischen Allüren
anderer nur mästet.
Und darum auch brauchen wir den Retter Jesus Christus. Der legt uns
in anderen die Hand auf zum Zeichen: Du bist mit Haut und Haaren gut. Und
der gebietet dem bösen Geist der Selbstverachtung: Fahre aus. Und
siehe da: Wo Krummes war, da richtet sich wer auf; wo Scham war, ist freier
Blick: �wo Brandmarkung war, soll Sprache entstehen� (B. Strauß).
Bei Lukas heißt es: �Jesus legte die Hände auf sie. Sogleich
richtete sie sich auf und pries Gott." � Herrlich dies Zuwortekommen der
Seele � wenn wir jauchzen, wem sonst, als dem Weltengrund erweisen wir
Dank! Wenn wir gern wir sind, ist das Gottesdienst pur, die direkte Form
Gott zu heiligen. Mich selbst nämlich und den Nächsten als Abrahams
Kind, als Kind der Verheißung zu wissen, ist Gottesdienst. Das Göttliche
in mir, grüßt das Göttliche in dir. Amen.
Losungen mit kurzer Auslegung (T.G.)
24.01.1999 Letzter Sonntag nach Epiphanias
Über dir geht auf der Herr, und seine Herrlichkeit erscheint über
dir. Jesaja 60, 2
Laß dir das gefallen. � Wie eine Blume sich nach der Sonne richtet,
wirst du bestimmt davon, daß Gott über dir aufgeht. Du mußt
nichts entscheiden, mußt nur nicht dagegen sein, daß dir die
Welt erleuchtet ist von der Liebe. Du wirst dann Gewalt als Mangel verstehen
und Trauer als Sehnsucht � du wirst mit den Augen des Herzens sehen. �
Du wirst Freude abstrahlen. Wohin du kommst, bringst du einen Schimmer
von Gott mit.
31.01.1999 Septuagesimae
Wir liegen vor dir mit unserm Gebet und vertrauen nicht auf unsre Gerechtigkeit,
sondern auf deine große Barmherzigkeit. Daniel 9, 18
Nein, liegen im Sinne von Unterwürfigkeit � das willst du von
uns nicht haben, wir sind ja deine freien Söhne und Töchter.
Du suchst mit uns das Gespräch, du willst dich in uns ausdrücken.
Und wir brauchen die Fühlung zu dir, wie die Luft zum Atmen. Es ist
deine Zuneigung, uns so zu schätzen; nicht unsere Leistung macht uns
dir wichtig. Deine Lust an uns macht uns gut.