Keitumer Predigten Traugott Giesen
01.08.1999
Erfahrung und Erwartung
Lukas 9, 61, 62: Und einer sprach: Herr, ich will dir nachfolgen; aber
erlaube mir zuvor, daß ich Abschied nehme von denen, die in meinem
Haus sind. Jesus aber sprach zu ihm: Wer seine Hand an den Pflug legt und
sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.
Eins der ursprünglichen Worte des Jesus, energiegeladen, entschieden,
löst direkte Weisung aus: Klar, was der Bauer mit dem Pflug tut, er
dirigiert den Ochsen oder die Pferde vorwärts. Er schaut voraus zum
Horizont und immer wieder hart vor die Füße, wo gleich die Pflugschar
den Boden bricht und umlegt, ob da ein Hindernis sei oder womöglich
ein Schatz sich auftue. Jedenfalls Zurücksehen bringt nichts. Man
kann an der überstandenen, schon bewältigten Strecke die Richtung
nicht ablesen. Woher wir kommen sagt nicht, wohin wir müssen.
Wenn die Geschäfte gut liefen bisher, ist doch das Zukünftige
offen.
Eben steuer ich sicher das Auto, da ein Hindernis und eine neue Zeit
bricht an. Nichts was war ist gleich noch so. Der Eiserne Vorhang stand
40 Jahre. Aber Zukunft brach sich Bahn, da fiel die Mauer um.
Die Herkunft verlängern, macht keine Zukunft. Das ist zwar oft
unser Wunsch: Verweile doch, es soll alles so bleiben. Die Vergangenheit
soll man so weitergehen. Aber warum sind wir nur so bescheiden. Jesus schüttelt
uns.
Spüre doch den Sog nach vorn � Reich Gottes, �da Fried und Freude
lacht�, da aufgehoben sind Kämpfen und Tränen, Geknebeltsein
von Ängsten � du der Ohnmacht entronnen. Die Sehnsucht nach Reich
Gottes zielt nicht auf dermaleinst sondern treibt zu neuen Ufern. Wo wir
einander gut sind, wir gut gemacht sind für einander von Gottes Augen,
da ist Reich Gottes, und es wird kommen, wo alles mit Gott ineins ist und
nichts mehr quer zu ihm. Und das fängt hier an, mit dem einander hilfreich
sein und abschwören der gotteslästerlichen Vorstellung, der Mensch
sei dem Menschen ein Wolf: �Es wächst hernieden Brot genug für
alle Menschenkinder. Auch Rosen Myrten, Schönheit und Lust, und Zuckererbsen
nicht minder (H. Heine).
Daß wir vom Sog einer großen Hoffnung angesteckt sind,
laßt uns wieder leise lernen.
Es ist doch auch politisch was zu hoffen. Die einzelnen Staaten geben
ihre Macht mehr und mehr ab an internationale Bündnisse. Daß
ein Mensch seinem Volk, seinem Staat gehöre � dieser lästerliche
Machtanspruch ist doch verschlissen: Die Macht wird mehr bei den privaten
internationalen Geschäftsstrukturen liegen, die immer mehr auf Kooperation
aus sind als die Nationalstaaten es je waren.
Und auch im Kulturellen: Künstler, Dichter, Nachdenkliche schlagen
doch aus dem Zukunftstraum Reich Gottes Funken von Elan: Du Mensch bist
für Freude gemeint. Schau nach vorn. Leg Hand an, bau mit, knüpf
das Netz, befreunde dich.
Und die Vergangenheit: Was geschah ist dazu da, daß du jetzt
den Acker Gegenwart bestellst. Geschichte wird erinnert, damit wir jetzt
hier das Richtige tun. Geschichte ragt bis an die Schwelle Jetzt: Sie ist
da in Form von Gestein und Genen, Straßen, Brücken, Häusern,
Geld � als gemünzte Form geleisteter Arbeit oder versprochener Arbeit.
� Geschichte ragt bis zu uns in Form allen gehäuften Wissens, in geformter
Nächstenliebe � ADAC, Rotes Kreuz, Krankenhäuser, Pflegeheime.
� Und auch Schuld gehört zu unserer Geschichte, aber hat sie eine
Form, ein Bild?
Daß zu unserer Herkunft die Reformation gehört, auch Goethe,
auch Einstein und auch die Greuel der Nazizeit � wie das uns im Bewußtsein
halten, zugunsten einer glückenden Zukunft?
Ein zentrales Holocaust-Mahnmal, auch eins für Sinti und Roma,
wird seit 10 Jahren debattiert. Es will uns nicht festlegen auf diese Nazi-Herkunft.
Aber es soll zeigen, wir haben begriffen: Zu unserer Herkunft gehören
auch diese Verbrechen. Gerade wenn wir keine Mahnmale hätten, bliebe
die Vergangenheit bleiern, wir steckten in einem Urwald von Erinnerungen
(E. Canetti) ohne Deutung, ohne Schuldkenntnis, dann auch ohne Vergebung.
Ein Hoffnungsbild ist das Kainszeichen. Kain empfing sein Zeichen zum
Schutz, daß an ihm nicht Menschen sündigen und er vor sich selbst
gewarnt bleibt. Kain trug sein Mal, um von seiner Tat gerettet zu werden.
Danach bauten seine Kinder und er Städte, schrieben Musik und wurden
groß in der Geschichte (1. Mose 4, Hinweis von Albert Friedländer
in SZ 17.07.1999). Peter Eisenman hat einen Entwurf für das Mahnmal
in Deustchlands Hauptstadt geschaffen. Das Mahnmal spiegelt die unvorstellbar
monströse Tat, in ihrer riesigen Furchtbarkeit nicht zu verstehen.
Und weil nicht zu verstehen, verstehst du auf einmal � so könnte Gedenken
gelingen zugunsten von Zukunft. Hätten wir nur an unsere Häuser
kleine metallene Plaketten angebracht, auf denen man lesen kann: In diesem
Haus lebten Hans und Esther und die kleine Ruth Meier. Sie wurden am 3.
Februar 1938 nach Sachsenhausen gebracht und nie wieder gesehen. � Solche
kleinen Schilder ermöglichten eine sehr persönlichere Art des
Gedenkens. Wir haben es nicht vollbracht. Auch auf dem Keitumer Friedhof
weist keine Tafel auf die Menschen hin, die von hier um ihrer Religion,
Herkunft oder Gesinnung wegen ermordet wurden und deren Asche hier beigesetzt
wurde.
Zurück zum Bauern beim Pflügen. Er erinnert sich auch. Daß
er überhaupt pflügt, macht die Erinnerung. Er weiß, wie
Hunger weh tut, er imaginiert die Hungerbilder seiner oder seiner Eltern
Kindheit, oder er sieht die Hungernden �Brot für die Welt� erbitten,
weil sie nichts zu pflügen haben. Und er pflügt, weil er die
Erfahrung gemacht hat, daß Entsteinen, Pflügen, Säen, Walzen
bei genügend Regen gute Ernte bringt.
Aber er pflügt doch vor allem, weil er das schöne Korn, das
leckere Brot oder den Bausparvertrag vor sich sieht, pflügt aus Lust
am Ernten. Die Ernte macht ihn jetzt fleißig. � Also, Erfahrung mag
schieben, aber den Bauern zieht die Lust auf Ernte nach vorn, der Sog,
der aus der Zukunft kommt, das vorn gesteckte Ziel, dem jagt er nach.
Anders Goethes Mutter. Sie hatte einen Wahlspruch: Erfahrung macht
Hoffnung. � In der Bibel steht�s auch so, mit den Zwischenstationen: Bedrängnis
bringt Geduld, Geduld Bewährung, Bewährung bringt Hoffnung (Römer
5, 3f). Erfahrung von Bedrängnis, Geduld, Bewährung macht Hoffnung.
Nicht zurückschauen! Diese Weisung meint doch, wir dürfen
uns nicht zurücksehnen zu den Zeiten vor der schwierigen Erfahrung.
Ohne das Schwierige wärst du jetzt nicht hier, nicht der du bist.
Und der mußt du jetzt sein � nicht bleiben; aber jetzt bist du gut
wie du auch geworden bist, gut um dich nach vorn zu strecken, auszustrecken,
verwandelt zu werden. Du � geworden auch durch Schwieriges. Du � schau
nach vorn, laß dich mitziehen vom Kommen des Reiches Gottes. Vor
dir Freude, Verantwortung, Geliebtsein, Gebrauchtwerden.
Also du verwitwet oder entheiratet: bei dir bleibt: Ihr habt euch geliebt.
Das Diesen-Menschen-geliebt-haben bleibt dir, das Von-ihm-geliebt-worden-sein
bleibt dir, ist weiter Anteil von dir. Aber öffne dich neuem Lieben.
Du mußt deine Zukunft bestellen, du darfst nicht einem uns Gestorbenen
treu bleiben. Schrecksymbol für dies Dienen nach rückwärts
sind die Pyramiden, wo Zehntausende ihr Leben ließen dafür,
daß ein Toter sich vom Gedenken der Lebenden nähre.
Ein anderes Schrecksymbol für dies An-die-Vergangenheit-gekettet-sein
bildet Lots Frau. So geht die alte Sage aus dem 1. Mosebuch (19, 26): Die
Städte Sodom und Gomorra mußten an ihrem Wahnsinn zugrunde gehen.
Gott gab Lot und dessen Frau im letzten Augenblick einen Wink; sie sollten
sich absetzen, sich nicht umdrehen, nichts einpacken, nichts festhalten,
nichts mitnehmen. Aber Lots Frau rang so um die schönen Schätze,
die sie nicht zurücklassen wollte, vielleicht auch um Freunde, Erinnerungen
� sie blieb stehen und weinte bis sie zur Salzsäule ihrer Tränen
erstarrte, vielleicht auch erstarrte am Salz der nicht geweinten Tränen.
Also, du verlassener Mensch: Bitte, suche, klopfe an, streck dich aus
nach vorn.
Oder du verschuldet: Bleib darin nicht sitzen. Kämpf dich aus
dem klebrigen Quark des Enttäuschens heraus.
Oder du alt: Aber so lange die Flamme Ich noch in dir flackert, wirst
du Augenblicke mit Menschen, und wenn du magst mit Tieren, genießen,
kleine Inseln von Reich Gottes bauen. � Eine Schaukel und Hasenstall in
den Garten, und die Kinder kommen und flechten dir Blumen ins Haar, schenken
dir Blicke voller Verständnis.
Erwartung und Erfahrung � beides brauchen wir.
Wichtig, daß Erwartung nicht nur aus Erfahrung gespeist ist,
sondern eben: Dein Kopf sei gehoben zu weitem Horizont. Lebte unser Erwarten
nur aus Erfahrung, wären wir längst tot. Ohne die Fähigkeit
zum Neuanfang aus besseren Motiven wäre die Menschheit, wohl längst
an ihren erworbenen Erfahrungen gestorben, sie wäre an Altersschwermut,
am Leichengift des Tatsachenbewußtseins zugrunde gegangen.(P. Sloterdijk).
Jesus reißt uns einen weiten Horizont auf: du kannst dich ändern,
du kannst umkehren und Buße tun, kannst neu leben lernen aus den
Schätzen des Himmels.
Auch den Pessimisten erteilt Jesus eine Absage: Zurückblicken
und alles für Tand und Irrtum halten, meinen, daß �sich alles
vom Schlechten zum Schlimmeren entwickle, ist die Torheit der Weisen seit
es Geschichte gibt. Offenbar handelt es sich um ein Vorurteil, das auch
die kritischsten und rationalsten Geister befällt, sobald sie vom
Leben mehr Vergehen spüren als Werden� (nach B. Strauss).
Eines der größten vorstellbaren Vergnügen für
jeden, wenn nicht die tägliche Rettung für alle, ist: Die Gedanken
zu dem schweifen zu lassen, was kommen wird oder kommen kann an Gutem (X.
Marias) und Körnchen für Körnchen dafür einsäen
(Chr. Morgenstern). Amen.
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