Keitumer Predigten Traugott
Giesen 08.07.2001
Psalm 139
1 HERR, du erforschest mich und kennest
mich.
2 Ich sitze oder stehe auf, so weißt du
es; du verstehst meine Gedanken von ferne.
3 Ich gehe oder liege, so bist du um mich und
siehst alle meine Wege.
4 es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du,
HERR, nicht schon wüsstest.
5 Von allen Seiten umgibst du mich und hältst
deine Hand über mir.
6 Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und
zu hoch, ich kann sie nicht begreifen.
7 Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und
wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht?
8 Führe ich gen Himmel, so bist du da;
bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da.
9 Nähme ich Flügel der Morgenröte
und bliebe am äußersten Meer,
10 so würde auch dort deine Hand mich
führen und deine Rechte mich halten.
11 Spräche ich: Finsternis möge mich
decken und Nacht statt Licht um mich sein -,
12 so wäre auch Finsternis nicht finster
bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das
Licht.
17a Am Ende bin ich noch immer bei dir.
1.Könige 19
1 Und König Ahab sagte seiner Frau Isebel
alles, was Elia getan hatte und wie er alle Propheten Baals mit dem Schwert
umgebracht hatte.
2 Da sandte Isebel einen Boten zu Elia und
ließ ihm sagen: Bis morgen um diese Zeit tue ich dir, wie du diesen
getan hast!
3 Da fürchtete er sich, machte sich auf
und lief um sein Leben und kam nach Beerscheba in Juda und ließ seinen
Diener dort.
4 Er aber ging hin in die Wüste eine Tagereise
weit und kam und setzte sich unter einen Wacholder und wünschte sich
zu sterben und sprach: Es ist genug, so nimm nun, HERR, meine Seele; ich
bin nicht besser als meine Eltern.
5 Und er legte sich hin und schlief und schlief
unter dem Wacholder. Und siehe, ein Engel rührte ihn an und sprach zu
ihm: Steh auf und iss!
6 Und er sah sich um, und siehe, zu seinen
Häupten lag ein geröstetes Brot und ein Krug mit Wasser. Und als
er gegessen und getrunken hatte, legte er sich wieder schlafen,
schlafen.
7 Und der Engel des HERRN kam zum zweiten Mal
wieder und rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss! Denn du hast
einen weiten Weg vor dir.
8 Und er stand auf und aß und trank und
ging durch die Kraft der Speise vierzig Tage und vierzig Nächte bis
zum Berg Gottes, dem Horeb.
Liebe Schwestern und Brüder!
Wir sollen leben. Dieser Befehl ist uns eingebaut:
Wir müssen essen, trinken, wieder aufstehen, an ein Werk gehen, uns
und andere ernähren, immer wieder, bis uns die Kräfte schwinden
und wir alt und lebenssatt geworden sind, und Gott uns von hier die Seele
fortküsst. Wir haben den Auftrag, den Garten Eden zu bebauen und zu
bewahren (1.Mose 2,15), damit auch uns an Leib und Seele gut bestellen und
bewahren.
Uns ist aufgetragen, das Leben gern zu haben.
Gott scheint eine Leidenschaft zu haben, daß seine Schöpfung Lust
hat zu sein, es scheint ja geradezu in uns ein Drall eingespeist zu sein,
der uns antreibt es hier schöner, angenehmer, auch bequemer zu haben.
Ja, in uns ist von Gottes eigener Kraft was übergesprungen, daß
wir selbst das Leben gern weitergeben und hegen und schützen. Die Lust
am Garten etwa ist ja die Freude, wachsen zu sehen; und wie viel
größer die Lust an Kindern und Enkeln, sie gedeihen zu sehen,
und Urenkel dann auch, und das ist nicht eine Frage der Verwandtschaft nur
- es können auch Nachbarkinder sein, Menschen eben, die heranwachsen
und mit denen wir Gemeinschaft erzielen. Wir dürfen an ein Zentrum des
Lebens glauben, das uns in Liebe trägt. Es kann kaum schöner gesagt
werden als in Weisheit 11, 23f: " Du Gott erbarmst dich über alle. Du
übersiehst die Sünden der Menschen, daß sie sich bessern
sollen. Du liebest alles was ist, und verabscheust nichts von dem , was du
gemacht hast; Du schonst alles, es gehört dir, du Freund des Lebens."
Und doch kann es mal genug sein für uns
Menschlein, vielleicht will einer nur Ruhe haben auch von Freude, weil er
nichts mehr aufnehmen kann, so wie er ist. Dann will er mit letzter Kraft
eine starke Verwandlung herbeiführen. Er hat keine Kraft mehr, Wärme
aufzunehmen, Wärme abzugeben - dann zieht man sich in sich ein - wird
vielleicht wie trocken Holz und dürres Blatt, dem man nachhilft, daß
es still vom Baum des Lebens fällt.
Des Lebens überdrüssig werden, das
kann auch in jüngeren Jahren geschehen. Das kommt vor allem davon, daß
wir eine Sehnsucht mitbekommen haben, die uns hier nicht gestillt wird. Wir
träumen von leuchtender Liebe und vollendeter Schönheit, vom eigenen
edlen Gutsein und von Fülle. Da halten wir das kärgliche Dasein
hier für vergebliche Liebesmüh; sehen auch unsern Beitrag hier
für schäbig an. Menschen wollen hier weg, "wenn alle Anstrengungen,
diesem Leben zu entkommen, immer wieder in die gleichen, verhaßten
Lebenslagen zurückführen" (R.Musil). Vielleicht sind sie auch in
Schuld geraten, die sie hier nicht mehr tragbar scheinen lässt, oder
sie können Unrecht nicht mehr mit ansehen. Wenn uns der Menschheit ganzer
Jammer anpackt, und wir sind hierhoffnungslos eingepfercht, wenn wir dann
sehnsüchtige Ausschau nach drüben haben - kann es leichter sein,
zu gehen, als zu bleiben.
Christlicher Glaube hat bei allem Lebensmut
fürs Diesseits auch schmerzlich himmelsstürmenden Vorstellungen
vom glücklichen Jenseits: In "Geh aus mein Herz und suche Freud" heißt
die neunte Strophe: "Ach, denk ich bist du hier so schön, und
läßt du´s uns so lieblich gehen auf dieser armen Erden: was
will doch wohl nach dieser Welt dort in dem reichen Himmelszelt und güldnen
Schlosse werden!" - Es kann uns auch vor dem Altwerden von hier wegziehen.
Und es kann sein, daß wir uns hier nicht mehr ertragen, aus Schmerzen
des Leibes und der Seele. Dann kann es sein, daß wir meinen, es reiße
uns von hier weg, wie Heinrich v. Kleist, der ging, "weil mir auf dieser
Erde nicht zu helfen war."
Der Mensch ist ausgezeichnet, nicht leben zu
müssen. Tiere müssen ihr Dasein fristen, Pflanzen wesen und verwesen
ohne Willen, nur der Mensch ist geadelt, mit Einverständnis hier zu
sein. Und ist nicht jeder sonnige Morgen eine neue Überredung, doch
aufzustehen und den Tag mit Lust unter die Füße zu nehmen? Die
Welt ist nicht perfekt, aber gut ist sie (1. Mose 1,31), sehr gut für
weiteres; Gott ringt mit uns um das Einverständnis, gern hier zu sein
als Du, ich in dieser Zeit, mit deinen dir ans Herz gewachsenen Menschen
und die dir noch nahe kommen sollen - nimm das Leben als ein dauerndes Werben
Gottes um dein Einverständnis mit ihm und dem Leben. Aber du mußt
dem Leben auch geben, was es braucht, um dich zufrieden zu kriegen.
Natürlich mußte Selbsttötung
früher mit einem Bann belegt sein, sonst wäre die Menschheit wohl
längst ausgestorben bei den Strapazen zu überleben. Mord und Selbstmord
nahmen dem Schöpfer was von seinem Besitz. Doch rissen sie sich denn
von Gott los? Als Pastor habe ich manchen Selbstmörder mit zu Grabe
gebracht, habe manche Abschiedsbriefe zu lesen bekommen. Je mehr ich von
dem Einzelnen erkennen konnte, desto sicherer schien es m i r voreilig, daß
er sich das Leben verkürzte: Ich suchte, zu spät und trotzdem das
Gespräch: Hattest du denn an alle Türen schon geklopft? Hattest
du die Verwandlung deiner Situation mit allen Kräften betrieben? Du
hast Dich nicht herausgearbeitet aus krankmachenden Umständen. Oder
für wen hast du gemeint, stellvertretend büßen zu müssen?
Oder warum hattest du so viel Hass auf dich, daß du dich zerreißen
ließest? Wievielen Menschen hast du nicht die Möglichkeit gegeben,
dich zu erkennen? Einer schrieb: "Der Schein des Lebens war mir zu groß,
ich konnte ihn nicht wechseln." Eine schrieb:"Ich konnte mich hier nicht
mehr halten, Schmerzen treiben mich von hier weg, Gott versteht mich." Und
ein anderer: "Es ist kein Tor des Tapferen, es ist nur Flucht. Vergebt mir
das Chaos, das ich euch hinterlasse."
Also, keine Gloriole für den, der sich
das Leben nimmt; Aber auch keinen Bann. Die Bibel bewahrt Geschichten vom
Selbstmord. Und hat immer Mitleid. König Saul ist von Traurigkeit
erfüllt, nur kurz wird diese Melancholie von Davids Saitenspiel verscheucht,
letztlich stürzt er sich doch in sein Schwert und sein Waffenträger
macht es ihm nach. Und Trauer herrschte in Israel.
Prophet Elia legt sich erschöpft hin, isst
nicht mehr, trinkt nicht mehr, und will nicht mehr. "Ich bin nicht besser
als meine Eltern", nimm mich weg von hier. Doch Ihn weckt ein Engel, nährt
ihn und beauftragt ihn neu.
Judas "warf die dreißig Silberlinge des
Verrates in den Tempel und erhängte sich;" Doch in der Kirche zu Vezelay,
in Burgund, zeigt ein Säulenkopf die wunderbare Szene: Jesus trägt
den toten Judas auf seiner Schulter, trägt ihn heim wie ein verlorenes
Schaf.
Paulus sagt tiefe Gedanken: Christus ist mein
Leben und Sterben mein Gewinn. Ich habe Lust, aus der Welt zuscheiden und
bei Christus zu sein, aber um der Gemeinde willen muß ich noch im Fleisch
bleiben (Philipper 1,21.23).
Wir müssen nicht leben. Wir sind eingeladen,
hier ein Stück Schöpfung mitzugestalten. Und das Leben lohnt uns
mit viel Freude. "Der dich erhält, wie es dir selber gefällt, hast
du nicht dieses verspüret?"- dieser Lobgesang gelingt doch, wenn auch
nicht auch alle Tage. Auch es ist nicht ausgemacht, wie wir von hier wegkommen.
Aber daß wir hinkommen, an ein Ziel kommen, wo wir aufgenommen werden,
uns da "Fried und Freude lacht", das glaube ich gewiß. Wir sollen wissen:
Meine Zeit steht in Gottes Händen", ich soll nicht Hand an mich legen.
- Und doch: "Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, bist du Gott doch
alle Zeit, meines Herzens Trost und mein Teil" - singt Psalm 73. Ist das
nicht ein Trostwort, gehen zu dürfen, wenn ich hier nicht mehr
kann?
"Das Leben soll keine Straf sein, die Nacht
soll für den Schlaf sein" (B. Brecht). So ist das Hiersein gemeint,
als dennoch lebbares. Aber wer vor Schmerz nicht mehr aus noch ein weiß,
und stürzt sich aus der Welt in Gottes Arme, wie würde Er nicht
auffangen und heilmachen? Zumal - auch wer sich von hier wegreißt verneint
nicht den Willen zum besseren Leben, er sagt nur: hier kann ich nicht das
Gute des Lebens mehr merken und mitbetreiben. Er verneint nicht das Leben,
sondern die Bedingungen, die ihm geworden sind (Ernst Bloch). Ein Trost,
daß wir nicht leben müssen, sondern uns das ewige Leben nehmen,
ja herbeizerren können, in größter Not. Letztlich ja entwertet
nicht der Tod das Leben, sondern führt es der Krönung zu.
Aber lassen wir keinen einfach ziehen. Spüren
wir eines Menschen Verlangen, aus dem Leben zu gehen, hängen wir uns
an ihn, stärken wir ihm das Flämmchen Lebensmut, sagen, daß
seine Sicht der Dinge unentbehrlich ist; und er nie nie austauschbar ist,
helfen wir, daß sein Herz hier noch einen Halt findet - in diesem
Zusammenhang: Der Hund als Halt, vertrauensbildende Maßnahme - wie
vielen Tieren hätte ein Denkmal gebaut werden müssen. Und halt
auch aus Liebe aus: ich will nicht ohne den sein und will auch den nicht
allein lassen. Und aus Pflicht. "Jeder ist zum Hüter mehrerer Leben
bestellt, und wehe ihm, wenn er die nicht findet, die er hüten muß.
Weh ihm, wenn er die schlecht hütet, die er gefunden" (E.Canetti).
Doch letztlich ist der Lebenstrieb die "feurige
Flamme des Herrn" ( nach Hohelied 8,6 - dort von der Liebe gesagt).
Hierseinwollen ist doch Gnade, ein Empfinden für das wunderbare noch
Lebenmerken ist doch Geschenk. Feiern wir, daß wir noch sollen, noch
dürfen, noch können und wollen, bis wir aus dem Rahmen des Irdischen
genommen werden und in einem anderen Großen vereinigt werden.
Amen.
Schlussgebet