Traugott Giesen Kolumne 27.10.2001
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Das elfte Gebot: Schade so wenig wie
möglich
Neue Vorbilder lieferte die Katastrophe vom
11. September. Die Feuerwehrleute, auch die zwei Freunde, die einen
Gelähmten aus seinem Rollstuhl befreiten und ihn 40, 50 Stockwerke
runtertrugen. Und die Pazifisten, die dem Präsidenten den Friedensnobelpreis
in Aussicht stellten, wenn er nicht auf Afghanistan bombe. Und noch viele
unbekannte Heilige, die im Augenblick höchster Not ihren Akt der Liebe
taten.
Zu denen, die in letzter Lebensstunde zu ihrer
Würde, ihrem Lebenswerk gefunden haben, gehört die
zusammengewürfelte Gesellschaft eines Fluges. Als die Passagiere in
dem gekidnappten Flugzeug per Handy vom Anschlag auf das World-Trade-Center
hörten, wussten sie, daß auch sie eine lebende Bombe abgeben sollten,
- und sie rissen die Gewalt an sich, töteten die Kidnapper und ließen
ihr Flugzeug irgendwo abstürzen, um so wenig Menschen wie möglich
mit in den Tod zu reißen. Wenn schon sterben, dann anderen zum Segen;
wenn schon scheitern, anderen zum Nutzen; noch in der Tragödie das
Fähnchen Zuversicht hissen, noch als Opfer von Hass dennoch lieben.
Gut ist, was so wenig wie möglich schadet - das als Maxime meines/deines
Handelns, könnte wenigstens Zeit schaffen für Rettendes.
Ich kenne eine alte Dame, die lebt mit ihrem
Garten. Sie bringt das Spülwasser raus und löffelt das ausgelaugte
Kaffeemehl unter die Blumen. Ich kenne einen Arzt, der verschreibt wenig
Pillen und viel Säfte und Tees und lange Gänge an der Flutkante
längs. Fahrgemeinschaften lindern den Smog. Mülltrennung, bessere
Isolierung, sparsamer Stromverbrauch - all das. Aber es ist noch mehr
nötig. Gut ist, wer beim Gutestun so wenig wie möglich schadet
- das angewendet auf Terroristenbekämpfung: Ich weiß nicht, was
richtig ist. Aber es ist das Gegenteil von: "Um die Stadt zu retten, mussten
wir sie vernichten" (ein US-Offizier im Vietnam-Krieg).
Ja, Freiheit braucht Sicherheit. Um die Freiheit
zu schützen, wie weit dürfen wir Sicherheit einengen?
Fingerabdrücke im Pass zur Pflicht machen, schadet wenig, verglichen
mit dem Vorteil, dass keiner mehr unter falscher Identität segelt. Keinem
nutzt mehr der geklaute Pass, die angeeigneten Daten. Vielleicht sollte man
diesen Vorteil mehr betonen und den Fingerabdruck erst mal freiwillig
möglich machen.
Wenig schaden reicht noch nicht als Programm.
Wenig schaden beim Richtiggetanen, das ist mehr. Richtig tickt noch nicht,
wer wenig braucht, sondern wer, mit dem, was er braucht, vielen nützt.
Keine Bösartigkeit loslassen ist viel, aber Bösartigkeiten
überhören ist mehr, und noch mehr hilft es, deren Quelle zur Sprache
zu bringen, und Querelen bereinigen.
Die den sicheren Tod vor Augen hatten, aber
an die Lebenden dachten und aktiv Gutes taten, sich aufbäumten gegen
das Vernichten im Sterben, sie gingen in den Tod, dem Jesus ähnlich:
liebend, eröffnend, die Lebenden verknüpfend.