Traugott Giesen Kolumne 16.08.1997 aus Hamburger Morgenpost
Lebenszunder Neugier
Sollte uns Neugier auf die Hinterbeine gestellt haben? Jedenfalls konnten
unsere fernen Verwandten so weiteres Terrain überblicken. Auch Türme
aufzurichten, trieb die Neugier: Je weiter man ins Land blicken konnte,
desto mehr Zeit blieb, sich gegen herannahende Feinde zu wappnen. Neugier
machte Galilei reich. Mit dem eben entdeckten Fernrohr identifizierte er
vom Marktturm Venedigs aus die herannahenden Kornschiffe, ging auf den
Markt und verkaufte zu etwas niedrigerem Preis sein ganzes Kornlager. Stunden
später war der Preis aufgrund des angelandeten Kornsegens rapide gefallen
und Galilei war reich.
Schmerzerfahrung oder Neugier lehren uns alles. Neugier läßt
Kinder alles auf Probe in den Mund stecken und macht uns zu Zeitungslesern.
Wir wollen Entwicklungen mitkriegen, wollen wissen, was läuft und
wo das Leben tobt und was hinter den Meldungen steckt.
Interesse ist eine Überlebens-Technik. Ich muß Lust haben,
dazwischen zu sein (so das lateinische Wort). Wir müssen merken, was
vorgeht und wer Vorteile von welcher Meinung hat. So wüßte ich
doch zu gern, was außer Angst vorm Ungewohnten gegen die so maßvolle
Rechtschreibreform spricht. Muß �Philosophie� so kompliziert geschrieben
werden, weil das griechische �Weisheitsfreund� so erkennbarer bleibt? �Phos�
(gr.: Licht) bleibt in �Photo� mehr erhalten, und doch ist mit �Foto� das
Abendland nicht untergegangen. Mit etwas Mut zum Neuen nagelten wir die
nächsten Generationen nicht auf das Althergebrachte fest.
Natürlich brauchen wir Übereinkünfte. Alle Fahrpläne,
Normen, Gewichte, Währungen, Zahlen sind Festlegungen. Sie gelten
zunächst mal. Die Fahrpläne einstampfen, weil sie gegen die Neugier
verstoßen, wäre lächerlich. Erst wo im Wesentlichen Verhaltenssicherheit
da ist, ist auch Raum für Phantasie gelassen. Partnerschaften, die
jeden Morgen neu gespannt sind, ob man noch zusammen frühstückt,
die leben doch auf einem Minenfeld.
Hat man Urvertrauen mitbekommen oder ist in Gottvertrauen eingetaucht,
dann hat man Halt genug für ein abenteuerliches Leben: Dann ist vorn
nicht schwarz vor Augen sondern Leuchten und Kraft und Lust und Liebe.
Dann ist vorn bei aller Vorsicht: Freundesland. Wir können einander
ergänzen, können von einander lernen, � auch daß meine
Sicht der Dinge eine Sorte von vielen ist: Kann so sein, muß nicht
so sein. Neugier schließt auf für andere. �Bösen Leumund
machen� ist die Kehrseite. � Aber Sympathie erkundigt sich. Liebe will
verstehen, mitfühlen; wie soll das gehen ohne Neugier. Wären
wir gegeneinander versiegelt, könnten wir nichts voneinander erfahren
außer mit Gewalt. Daß wir Freude haben zu sehen, zu merken,
zu überraschen, ist eine herrliche Begabung an uns Menschen. Wir haben
auch gern was mitzuteilen; wer führe übers Meer, wenn er keinem
davon berichten dürfte. Neugier ist Lebenszunder und hilft vielleicht
auch mal durch den Tod.