Traugott Giesen Kolumne 06.12.1997 aus Hamburger Morgenpost
Alle Freude ist Vorfreude
Alte Geschichten erzählen herrlich von der Wartezeit vor Weihnachten.
Da spannt sich ein weiter Bogen der Sehnsucht. Gute Seelen gehen heimlich
zu Werke, erschaffen Puppenhäuser oder Kaufmannsläden und schönste
Kleider; fleißige Hände stricken warme Träume. Die große
Familie singt und musiziert, Kinder lernen �Es begab sich aber zu der Zeit...�
Duft von Zimt und Anis zieht durch die Räume und läßt den
Bunten Teller schon viele Male vor dem geistigen Auge erscheinen, denn
die alltägliche Kost ist karg; aber bald soll sich ja alles, alles
wenden.
Heute ist die Sehnsucht nach dem großen Fest geringer � allein
schon, weil Not nachgelassen hat. Auch ist das Christkind auf das Niveau
des Osterhasen umgemodelt; kaum noch gewußt wird der alle verbindende
Sinn des Festes: Jesu Lebenslauf verspricht uns einen großen Hoffnungsbogen.
Auch bei wenig Wissen erwarten wir von Weihnachten Nahrung für die
Seele, da kann man nichts machen. Unsere Seele ist in der Adventszeit merkwürdig
flatterig und ausgespannt. Wir sagen zwar immer wieder: dieses Jahr machen
wir nichts. Aber dann mühen wir uns doch. Denn wir wollen Freude machen
und Freude erfahren.
Tanne oder Baum, Sterne, Kerzen, Kugeln � eine geputzte Wohnung und
ein leckeres Mahl sollen schon sein. Und Geschenke, einige � es macht doch
Freude, sich die Gesichter der Lieben, vorzustellen. Freude erblüht,
wenn ich vorweg phantasiere, was dem Andern gut tut: Das stärkt, ihn
fürsorglicher zu bedenken, als er sich selbst. Wer wollte nicht Freude
mehren? Sie steckt doch in uns, will aber heraus, braucht dazu allermeist
Gesellschaft, freilich welche?
Das ist jetzt dran, zu klären, mit wem ich feiere. Wir sollten
uns Freude sein, jedenfalls mit leichter Hand freundlich. Wenn dir die
wahrscheinliche Besetzung Beklommenheit bereitet, dann ist das jetzt dringendste
Adventsarbeit: Bereite Frieden, fädele Gespräche ein, hilf, daß
sie ihre Wünsche sagen, verabrede alles gut.
Freude vorbereiten fängt damit an, viel Unerfreuliches aus dem
Weg zu räumen.
Wir bleiben nach vorne ausgestreckt, ein Ohr horcht immer in Richtung
Zukunft. Wir warten doch auf die neue, hoffentlich gute Nachricht. Auch
in dem besten Leben sind wir Hoffende � sind hier nicht gestillt, nicht
vollends glücklich zu machen. Wir sind süchtig nach Vollkommenheit.
Darum ist jede Freude so wichtig, sie ist die Nahrung aus der Zukunft.
Sie läßt uns nach vorn leben, zieht uns. Wir lechzen doch nach
Freude, das hebt uns in jeden neuen Tag. Und doch ist Erfreuliches immer
nur Anfang und macht Hunger. Darum wird auch das Fest nicht die Erlösung,
aber es beschafft Freude, ist ein Versprechen, daß wir taugen für
mehr.