Traugott Giesen Kolumne 24.01.1998 aus Hamburger Morgenpost
Höflichkeit hält Abstand.
Den Hut ziehen verkürzt unsern Körper, es signalisiert Kleinsein,
zeigt Respekt. Die Schuhe abtreten vor dem Reinkommen ist anständig,
und die neue Rolle Klopapier hinlegen ist fair. Ein paar freundliche Worte
können nicht schaden, die ungezogene Aufrichtigkeit von Schuljungen
ist unter Erwachsenen schon ruppig. Etwas Höflichkeit sollte sein,
es ist wie Schaumgummi, es verhindert Knirschen, es kann seelisches Gleichgewicht
gerade noch sichern.
Höflichkeit kann auch geregelte Gleichgültigkeit sein. Sie
nimm zur Hilfe, wenn du keine Lust zur Nähe hast oder keine Kraft.
Wir müssen wirklich Interesse haben am andern, um ihn zu verstehen.
Und da unser Vorrat an Interesse, an Zugewandtheit knapp ist, ist Höflichkeit
eine so wichtige Zeichensprache. Sie kommt gut zum Zuge, wenn wir auf Abstand
bleiben aber nicht verletzen wollen.
Dann entschuldigen wir uns für unsere Verspätung mit Stau
oder Chefpflichten. Wir bedauern die versäumten Geburtstagswünsche
mit Irrtum; wir erklären das Versäumen des Krankenbesuches damit,
daß uns niemand was gesagt habe. Man übergeht eine Frechheit
mit luftiger Bemerkung. Einer beschwert sich herb, und ich antworte nichtssagend,
vielsagend höflich.
Wäre ich an ihm ehrlich interessiert, würde ich wohl den Kampf
aufnehmen und klarstellen und Tränen riskieren, hätte danach
Freundschaft oder Entzweiung. Aber dieses diplomatische, laue Begöschen
und Begütigen und Rausreden � es ist höflich, es hält in
der Schwebe, es federt ab, es verdeckt eben.
Ja, alles hat seine Zeit, auch Wahrheit und klare Kante. Aber wenn es
mir auf den Menschen ankommt, und ich bin verletzt oder habe verletzt,
dann habe ich ein Recht, verstanden zu werden, und ein Recht, daß
Schuld benannt wird.
Es ehrt, wenn einer dich anspricht: �Laß uns das Mißverständnis
aufklären, mir liegt daran, daß wir Frieden haben.� Du wirst
ihm entgegen kommen. Ihr werdet, auch wenn es weh tut, mehr voneinander
wissen und besser auf euch achthaben. � Wenn du aber auf Distanz bleiben
willst, wenn du witterst, es sei besser, jeder mache Seins � dann kann
höfliches, ausweichendes, offenhaltendes Reden beiden das Gesicht
wahren helfen. Höflichkeit lindert wie eine gute Ausrede.
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