Traugott Giesen Kolumne 25.01.1997 Hamburger Morgenpost
Leid benennen stärkt Gemeinschaft
Jan Philipp Reemtsma sprach über seine 33 Tage Verschleppung. Er sagte,
daß er Todesangst hatte und Schlimmeres: "Diese absolute Ohnmacht,
das Fehlen des Gefühls, nicht mehr zusammenzugehören mit der Welt,
weg zu sein, nicht mehr wissen, was einem geschieht," das sei schlimmer als
tot. "Ich hatte das Gefühl von Vorräten zu zehren." -
Diese Äußerung eines Mitmenschen bewegt mich und hat für
mich viel Anfrage an Kirche: Hat denn diese was, um nicht aus der Welt zu
fallen? Kirche hat das Wissen, ja, ist das Wissen: Um alles in der Welt,
du darfst dem andern nicht an sein Leben, er ist Gottes Heiliges. Du darfst
keinen Menschen zu einem Zweck machen, jeder ist ein Sinnstück vom
großen Sinnmosaik "Gott" oder "Leben" oder "Liebe" genannt. So ist
unser humaner Anspruch aneinander nicht Wunschdenken sondern wurzelt in ewiger
Setzung.
Und was hat Kirche, wenn einer dem andern die Hölle bereitet? Das starke
Bild von Jesu Höllenfahrt gibt Kunde, daß wir in Gott bleiben:
Alle Keller bleiben nicht letztlicher Ort. Auch wenn wir von keinem mehr
auf Erden erinnert wären, auch wenn uns die Welt verlorengeht, auch
wenn wir keinen Zusammenhang von gestern, heute, morgen mehr fühlen,
"auch wenn mir Leib und Seele verschmachtete, bist du doch, Gott, allezeit
meines Herzens Trost und mein Teil" (Psalm 73).
Dies Trostwissen macht Kirche lebenswichtig: Wenn Menschen uns vernichten,
und wenn der Tod uns schnappt - wie tief wir auch fallen, wir fallen immer
in Gottes Schoß. -
Ob dieser Glaube standhält in den Bedrohungen, bleibt die Frage, aber
hoffentlich gehört dann Gottesglaube noch zu meinen, deinen Vorräten.
Für jeden kommen Durststrecken, Zeiten, da zehren wir von Erfahrungen;
von der Elternliebe oder von Gedichten oder von Glaubensmut aus guten Vorbildern
oder von Sehnsucht.
Bibel und überhaupt die Menschheitsgeschichte ist ein gemeinsames Reservoir
von Lebensmut, Perlenketten voller Gottvertrauen, Netze von Erfahrungen der
Güte und des Hoffens. Kirche ist ein Schatzhaus an Wissen, was gut ist,
was sich bewährt hat im Zusammenleben. Nur: Wie heben Christen die
Schätze der Tradition, daß sie nicht Klumpen erstarrter Religion
bleiben - sondern eben Lebenszunder?
Christenwissen liefert Halt, um nicht aus der Welt zu fallen. Es befeuert
Bewußtsein, gerne ich zu sein, weil genau ich gewollt bin, ja unter
eben diesen Umständen, die im Wandel zum Besseren sind. - So soll ich
auf Rettung setzen, Hilfe anbahnen, klug am Ausweg bauen, dem Gegner helfen
zur Vernunft, Leid benennen, Grauen öffentlich machen. Auch dafür
Dank Ihnen, Herr Reemtsma.