Keitumer Predigten Traugott Giesen
25.06.2000
Die Wirklichkeit ist gottdurchwachsen
Psalm 37: Entrüste dich nicht über die Bösen, sei nicht
neidisch auf Übeltäter. Wie das Gras werden sie verdorren. Du
hoffe auf den Herrn und tu Gutes. Bleibe in den Umständen und nähre
dich redlich. Habe deine Lust am Zusammenhang mit Gott. Der wird dir geben,
was dein Herz wünscht. Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf
ihn, er wird�s wohlmachen.
Wie Allmacht und Liebe bei Gott zusammenzudenken sind, das überlegen
wir bei Katastrophen im Grossen und Kleinen.
�Beim Laufen begegne ich Gott. Ich rede mit ihm. Wollte er, was mir
passiert?� so Dieter Baumann, der in Laufdisziplinen 34 Deutsche Meisterschaften
errang, erklärter Doping-Gegner, aber wegen Verdacht auf Anabolika-Einnahme
gesperrt, eben wieder zu Wettkämpfen zugelassen. Wollte Gott, was
mir passierte? fragte er, fragten wir, als wir im Leid sassen.
Oder abgemildert: Warum lässt Gott zu, Hunger und Frieren, Gewalt
und Sterben? Und immer wieder: Warum ich, warum gerade mich? Etwas in uns
denkt, dass Gott gerade mich auf dem Kieker hat, gerade mir dies Leid aufhalst.
Beim Glück ist eine gezielte Aktion Gottes für mich schon wünschenswert.
Wir beten doch sehr persönlich, danken für die Genesung, diesen
Menschen besonders.
Aber ich will nicht denken, dass Gott Leid gezielt aufhalst. Aber dass
Gott gerade mir diese Liebe schenkt, diesen Tag, das will ich glauben.
Ich, du sollst und darfst dich ja von ihm reichlich und täglich versorgt
wissen, wider all Fährlichkeit behütet und bewahrt � so Luther.
Müsste ich nicht dann auch Leid als seinen Willen annehmen?
Weil er mein Lebenkönnen begründet, muss auch mein Mangel
an Lebenkönnen aus seiner Hand kommen. Das ja � aber etwas sträubt
sich in mir, Gott als Verursacher von Leid zu denken. �Herr! schicke, was
du willst, ein Liebes oder Leides; ich bin vergnügt, dass beides aus
deinen Händen quillt� (Mörike) kann ich nicht beten. Aber voll
Trost ist mir auch, dass Dietrich Bonhoeffer sagte: �Ich bin froh, dass
nicht Hitler und Knechte, wie die Gestapo über mich das letzte Wort
haben. Sondern ich mich mit allem in Gottes Hand wissen kann.�
Wie also Macht und Liebe zusammenhalten?
Ein Ausweg wäre der Dualismus. Bequem fürs Denken: zwei Götter,
der gute Gott und der Satanische; beide noch im Kampf miteinander um den
Endsieg � und um jede einzelne Seele. Und wir hätten uns zu entscheiden,
ob wir fürs Reich des Lichtes oder der Gewalt streiten und dann auch
mitfeiern dürfen oder gewaltsam untergehen. Aber diese Ehre wollen
Christen dem Bösen nicht lassen, dass es sich erhebe zu etwas, das
mit Gott auf Augenhöhe verkehre. Auch steht uns die Ehre nicht, dass
wir über unser Gehören selbst entschieden. Nein, alles was nicht
Gott ist, ist Schöpfung. Auch was sich selbst zu Gott ausruft, bleibt
unter ihm, bleibt sterblich und auf Erlösung angewiesen. Selbst was
den Anschein hat, gegen Gott zu sein, ist doch Kreatur, so Paulus (Römer
8), und kann uns nicht scheiden von der Liebe Gottes; das ist in Christus
offenbart.
Gott ist letztlich zuständig für alles was ist, was gut tut
oder weh tut. Aber wie ist das zu denken? Was ist darüber nicht alles
gedacht worden � sicher 500 Meter Bücher sind geschrieben worden über
das Thema: Theodizee � wie Gott gerechtfertigt werden kann angesichts des
Leides. Im Wesentlichen gibt es drei Theorien: Gott verhängt über
uns das Leid zur Strafe, zur Sühne, zur Besserung.
Zur Strafe habe Gott Leid verhängt, erzählt die Bibel an
vielen Stellen. Und doch sind die Geschichten alle vielschichtig.
Die Vertreibung aus dem Paradies � vordergründig Strafe für
Sünde des ersten Menschenpaares. Doch wir Menschen alle, jede Generation
und jeder für sich, fällt aus der kindlich-paradiesischen Einheit
mit Gott. Wir argwöhnen, von Gott zu wenig geliebt zu sein, dann wird
das Leben eine Strafe.
Und die grosse Flut. Sie auf Gott zurückzuführen, sie als
Strafe zu sehen war erste Art von Krisenbewältigung. So mussten sie
nicht dumpf sich abfinden mit den Naturgewalten, sie wussten einen in den
Gewalten mit ihnen zugange und versuchten mit ihm zu reden, ihn günstig
zu stimmen; sie lernten durch Arbeit, durch Busse ihr Geschick ändern
zu können.
Die Sintflutgeschichte taugt nicht als Beleg, dass Gott zur Strafe
Katastrophen schicke � ausdrücklich heisst es: Gott werde nicht mehr
durch Katastrophen die Menschheit zu erneuern suchen, �denn das Dichten
und Trachten des Menschen ist, wie es ist� (1. Mose 8, 21).
Und zur Sühne schicke Gott das Leid? Ist es nicht so, dass die
Wirklichkeit für alles ihren Preis fordert. Das Sein ist so gebaut,
dass wir nicht ungestraft ständig gegen an gehen können. Für
Lügen werden wir bestraft durch Misstrauen, für Alkoholmissbrauch
mit Leberleiden, für schlechte Leistung mit Auftragsentzug. Die Wirklichkeit
belohnt, bestraft getreu dem Satz aus Weisheit 11,26: Womit jemand sündigt,
wird er auch bestraft.
Wir Deutschen haben den Hitlerwahn, in den unser Volk bis auf wenige
Ausnahmen ganz versank, bitter gesühnt. Wer an Gott glaubte, hat nicht
Gott die Leiden vorgehalten sondern hat gelernt, dass wir Gott Leid angetan
haben millionenfach. Und haben den Tod des eigenen Vaters oder die Vertreibung
oder die 50 Jahre geteiltes Deutschland als Sühne sich gelten lassen
können; als Folge, die zwangsläufig war. Nicht als Rache Gottes
oder als extra auferlegte Busszahlung sondern aus innerer Notwendigkeit.
Auch wenn Christen ihr Leid als Strafe, als Strafe Gottes angenommen
haben, heisst das nicht, dass Gott strafe. Ja, Gott setzt uns aus den Folgen
unseres Tuns (nach Römer 1, 24). Er setzt uns ja dem Leben aus. Dem
Leben geben, was das Leben braucht, um uns zu hegen, das müssen wir
lernen � gemäss Jesu Wort: Seid klug und ohne Falsch.
Und zur Besserung sollte Gott Leid verhängen? Also zu Schaden
bringen, damit wir vorsichtiger werden? Krankmachen, damit wir das Leben
schätzen lernen? Aids zur Abschreckung? Ungeheuerlich, Gott zu unterstellen
er verfahre nach dem Grundsatz: der Zweck heilige die Mittel. � Nicht mal
wir Schwierigen stellen unsern Kindern ein Bein, damit sie künftig
besser aufpassen � da sollen wir Gott so was Mieses zutrauen? Das ist doch
alles aus der Vorzeit, als man noch den Patriarchen im Himmel mit Blitz
und Donner amtieren sah.
Alle diese Vorstellungen, Gott verhänge Leid, sind doch Ausgeburten
unseres leidenlassenden Gebarens. Da schaffen wir Gott nach unserm Bild:
Wir strafen, wir fordern Sühne, wir wollen bessern durch Schläge,
Abmahnungen, Liebesentzug. Wir sind so, sind auch so. Und dürfen so
sein. Wir sind ja nicht Gott sondern nur Menschen, mit viel Schatten an
der Hacke.
Gott tut nichts Böses. Aber so viel Böses geschieht, ist
Teil seiner Schöpfung. Ist Gott voller Liebe aber noch nicht allmächtig,
so dass alle Dinge nach seinem Willen laufen?
Sein grösster Wurf nach dem Menschen � und dem Hund � ist doch
eine Art Selbstregulierendes in der Schöpfung. �Gott macht, dass sich
Dinge selber machen� (Luther). Das schliesst ein die Irrungen und Verbrechen
der Menschen. Unsere Bosheit ist die Kehrseite davon, dass wir zum Guten
begabt sind. Die Menschen tun unendlich viel mehr Gutes als Böses.
Ja, Gott hat die Welt gut gemacht, sehr gut, aber sehr gut für
Weiteres; Entwicklung ist noch im Gange, Wachstum an Erkenntnis. Auch die
noch unerwachten Träume Gottes gehören zum Werdenden.
Im Bild, der siebte Tag, da Gott von allen Werken mit seiner Schöpfung
ruht, kommt noch. Der Sabbat, der Sonntag ist Vorgeschmack, wie die Liebesumarmung
Ouvertüre ist für künftige Freude. Es ist im Kommen: Gott
wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht
mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; das wird
alles vergangen sein. Denn spricht Gott: Siehe, ich mache alles neu! (Offenbarung
21, 4.5).
Das Leid und das Böse sind Bestandteil der Wirklichkeit , die
noch Werdewelt ist. Dahin passt die erhellende Situation (Johannes 9):
Und Jesus ging durch die Stadt und sie sahen einen Menschen der blind geboren
war. Und die Jünger machten ein theologisches Problem draus: Wer hat
gesündigt, dieser Blindgeborene oder seine Eltern? Jesus antwortete:
weder er noch sie, sondern es sollen die heilenden Werke Gottes offenbar
werden. Und er öffnete ihm die Augen. Also Leid ist auf dem Weg zur
Heilung. Die heilenden Werke Gottes kommen � in dieser Wirklichkeit.
Also Gott schützt uns nicht vor der Wirklichkeit, Gott ist in
dieser Wirklichkeit � und noch tiefer: Es ist eine gottvolle Wirklichkeit,
mit allen Schatten. So geschieht Freude und Leid Gott selbst. Er verhängt
nicht, als wäre er davon nicht berührt. Gott ist alle Energie
und ist im Wesentlichen Liebe � so hat ihn Jesus uns entschlüsselt.
Jedenfalls ist alle Energie Gottes Power, auch die von Menschen ins Unrecht
verkehrte. Die erleidet dann Gott mit. Das ist in Christi Leiden abgebildet.
Vom Ende her werden wir sehen: Alles ist Äusserung des Gottes,
der Fleisch und Wirklichkeit geworden ist. Gott wird sein alles in allem,
du, ich inklusive. �
In Glücksaugenblicken geht uns diese Gottdurchwachsenheit des
Wirklichen auf. Die geheime Beziehungsfülle ist unendlich. Die Bedürftigkeit
nach Erlösung ist unauslotbar. Die Lichtblicke von Freude, Freundschaft,
Zartheit und Gerechtigkeit sind so viel mehr als der Jammer. All die Fürsorge
und Mühe und Begeisterung aneinander ist gestaltete Macht und Liebe
Gottes.
Dieter Baumann ist übrigens freigesprochen worden. Sein Zitat
ging noch weiter: �Beim Laufen begegne ich Gott. Ich rede mit ihm. Wollte
er, was mir passiert? Man könnte meinen, das sei jetzt Bestimmung.
Aber das sehe ich anders. Ich habe ein Problem, und das muss ich lösen.�
Leid als Problem, das ich tragen muss, und damit verändert es
sich. � Und alles Dankgefühl meint letztlich Gottes Allmacht und alle
Klage ist letztlich in den Schoss der Liebe geweint. � Amen.