Predigt 28. Dezember 2003
Keitumer Predigten Traugott Giesen 28.12.2003
Der zwöljährige Jesus im Tempel
Lukas 2,41.52
Das Jahr läuft ab, läuft aus, aber es endet unruhig wie es die
ganze Strecke lang war. Das Erdbeben im Iran hat wohl zehntausend Menschen
den Tod gebracht, Israel/Palästina töten einander, Gasunglück
in China, eben die Glatteisunfälle bei uns, Meldungen von der Verteuerung
der Altenpflege. Geruhsame Tage, stille Tage wünschte man sich, - aber
es ist alles in Unruhe. Und wer ist arbeitslos oder steht vor der
Kündigung, wer ist krank oder hat einen kranken Nächsten. Nur eine
Handbreit über dem Chaos wir alle, mühsam das Leben, Gott hat es
schwer. Und jeder hat sein Päckchen - Erziehen ist eins davon.
Kinder erziehen ist und war immer ein großes Projekt. Aber früher
war Erziehen selbstverständlich, neun von zehn Frauen hatten Kinder,
meist mehr als zwei. Heute bleiben schon drei von zehn Frauen kinderlos,
bald vier von zehn; und wenn doch, dann sind sie meist nur mit einem Kind
gesegnet. Drei Kinder scheinen schon irgendwie fragwürdig, so verrückt
sind wir geworden.
Ein Kind ist Prinz oder Herrin, alle stehen im Dienste des Kindes, alle reden
mit, die diversen Großeltern aus mehreren Schichten, die Tanten, die
Nachbarn, die Kindergärtnerin gibt zu bedenken. Und wehe, da gibt es
mal ein scharfes Wort der Eltern, Forderungen hat es keine zu geben, nur
Wünsche; Vorschläge sollten mit "Bitte" und "Würdest du mal"
angebracht werden. Schmeißt sich ein Kind schreiend auf die Ede, in
den Trotzphasen keine Seltenheit, bleiben die Leute stehen und bedauern "das
arme Kind".
Die Familenstruktur ist farbenfroher geworden, jedes zehnte Paar hat Kinder
auch aus anderen Bindungen, Kinder werden anerkannt. Das ist ein großer
Gewinn. Der Ton ist sanfter geworden, entsprechend ist weniger Erziehungsdruck.
Was auch zur Folge hat, dass Kinder länger zuhause bleiben. Und die
Verhandlungen dauern, "was menschliches Essen sei", welches Fernsehen auf
dem großen Apparat läuft, welche Sorte Ferien, was für Besuch
ins Haus kommt, welche Hemden Vater tragen dürfe - alles Stoff für
langwieriges Reden und Verhandlungen. Die Männer entziehen sich schneller
hinter die Zeitung. Wenig Ausfälliges, Spucken und Treten tun einige
im Bus, aber nur vorübergehend, es ist ein unaufhörliches gegenseitiges
Erziehen, kaum ein Strafritual, bis auf Schweigen, was beide Seiten bald
nervt. Harmonie soll sein; keine Erziehung mehr zum Gehorsam. Eltern lassen
mehr und mehr ihre Sätze auch gegen sich selbst gelten.Gegenseitige
Rücksicht wird groß geschrieben, das Kind hat oft mehr Platz als
die Mutter. Oft verzichten die Eltern völlig auf unbeobachtete Zeit
für sich, das Paar braucht viele Absprachen und tägliche
Kalenderpflege.
Es ist ein Glück, das Zusammenleben mit Kindern; heranwachsend sind
sie eckig und schwierig, klar, ein Jahrzehnt und manchmal noch mehr brauchts,
bis der Jugendliche auszieht, weg von Pension Mama. Auch später halten
die Familien zusammen, jedenfalls die Frauen.
Hört einen Text vom Erziehen. Grundsätzlich gilt ja: "Du sollst
Vater und Mutter ehren" (2.Mose20) - was zunächst dem Erwachsenen im
Blick auf seine altgewordenenen Eltern gesagt ist. Und: "Ihr Kinder, seid
gehorsam euren Eltern in der Bindung zu Gott. Und ihr Eltern reizt eure Kinder
nicht zum Zorn, erzieht sie in der Bindung zu Gott" (Epheser 6,1.4)
Ausführlicher Lukas 2, 41-52
"Und Jesu Eltern gingen alle Jahre nach Jerusalem zum Passafest. Und als
er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf nach dem Brauch des Festes,
und er ging mit. Und als die Festtage vorüber waren und sie wieder nach
Hause gingen, blieb der Knabe Jesus in Jerusalem und seine Eltern wussten's
nicht. Sie meinten aber, er wäre unter den Gefährten, und kamen
eine Tagereise weit und suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten. Und
da sie ihn nicht fanden, gingen sie wieder nach Jerusalem und suchten ihn
lange. Dann, nach drei Tagen, fanden sie ihn im Tempel sitzen, mitten unter
den Lehrern, wie er ihnen zuhörte und sie fragte.Und alle, die ihm
zuhörten, verwunderten sich über seinen Verstand und seine Antworten.
Und als sie ihn sahen, entsetzten sie sich. Und seine Mutter sprach zu ihm:
Mein Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich
mit Schmerzen gesucht. Und er sprach zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht?
Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist? Und sie
verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen sagte. Und er ging mit ihnen hinab
und kam nach Nazareth und war ihnen untertan. Und seine Mutter behielt alle
diese Worte in ihrem Herzen. Und Jesus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade
bei Gott und den Menschen."
Schon spannend dieser Einblick in frühe Erziehung. Oder eher untypisch?
Eher eine Heiligengeschichte, unserem Jesus zu Füßen gelegt?
Dafür aber gehts wieder zu unverblümt ehrlich zu. Maria hat
zu sagen, als wäre sie die Mutter Gottes. Will das der Text erzählen
und damit eine frühe Marienverehrung anbandeln? Dafür sind die
Eltern aber zu hölzern.
Jesus war dem jüdischen Gebot zufolge im Tempel beschnitten worden,
am siebten Tage, also gekennzeichnet als männliches Gemeindeglied. (Man
kann sich denken, wie befreiend dann die Taufe wirkte: endlich ein Zeichen,
das Männern wie Frauen gleichwertig galt.) Mit zwölf ging der junge
Jude dann mit zum Passahfest, übernahm die Verpflichtung, das ganze
Gesetz zu halten. Die aus den Städten und Dörfern gekommen waren,
zogen wieder heim, schöne Wallfahrten waren es, mit Hallo und Spass
und Frauen bei Frauen und Männer bei Männern. Die Jugend tollt
ihre eigene Route, völlig normal, dass man sich erst am Abend beim
jeweiligen Quartiermachen wieder als Familie zulief - und da war der Schrecken
groß. Sie suchten ihn unter den Verwandten und Bekannten. Und da sie
ihn nicht fanden, gingen sie wieder nach Jerusalem und suchten ihn lange.
Dann fanden sie ihn im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen
zuhörte und sie fragte. Und alle verwunderten sich über seinen
Verstand und seine Antworten. Und als die Eltern ihn sahen, entsetzten sie
sich. Und seine Mutter sprach zu ihm: Mein Sohn, warum hast du uns das angetan?
Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.
Das Panische der Mutter - warum kamen sie nicht darauf, im Tempel zu suchen?
Die Mutter, der Vater mal wieder kein Partner, nur schweigend dabei, aber
gut zur Verstärkung der Autorität - sie müssten ihren Fehler
erkennen: so ein Kind, was ist denn mit einem Kind, das vor Musikalität
überfließt? Und zum ersten Mal ein Orchester hört, es muß
dahin und mitspielen, muss das Seine hinbringen zu den Könnern, und
fragen, was mit ihm sei, ob er richtig ticke. Und wer religiös so
musikalisch ist, der kommt zum ersten Mal nach Hause, wenn er im Tempel ist.
Er sprach zu ihnen: Warum habt ihr mich gesucht? Wisst ihr nicht, dass ich
sein muss in dem, was meines Vaters ist? Sie hätten es wissen müssen.
Wie einer zum ersten Mal Ölfarbe riecht in einem Maleratelier, und ihm
geht das Herz auf, und er weiß, er ist zum Malen geboren, so Jesus:
Er findet die Schriftgelehrten wie sie kämpfen um die Meinung eines
Wortes, eines Satzes, eines Buchstabens, - wie der die Bedeutung ins Gegenteil
verkehren kann, ein Tüttel schon kann Berge versetzen.
Vielleicht auch spürt Jesus, der Gottes Wille steht zwischen den Zeilen
der Wirklichkeit. Später wird er sagen: "Seht, die Vögel, sehet
die Kinder, sehet die Frau, die den Sauerteig anrührt; sehet Hirte und
Schafe-."Vielleicht ahnt Jesus, wie heiß das Thema Wahrheit ist. Denkt
er das: "Auf Erden läßt sich die Wahrheit nie beweisen, nur der
Irrtum verrät sich früher odrer später." (Davila) Darum muss
ich hin, wo man das Falsche, die falschen Götter entlarvt, wo man ermittelt,
was den Namen Gottes mißbraucht, und man sich verbotene Bilder macht.
Was Jesus so hinreißt zur Auslegung der Schriften - ist es die Ahnung,
dass er ein neuer Text sein wird, ein Text, den Gott schreiben wird auf sein
fleischernes Herz, nicht mehr auf Tafeln aus Stein? In Person des Jesus wird
die Wahrheit uns am nächsten kommen, ist es diese Ahnung, die Jesus
entzückt bei den alten Meisterdenkern?
Jedenfalls wußte Jesus, er hat eine unvermeidliche Reise zu tun, lang
noch den Eltern gehorchen, ihr System von Rücksichten lernen, ihre Deutung
von Wirklichkeit annehmen, auch wenn ein anderes Verstehen sich in ihm anbahnt.
Wir müssen die Reise durch Kindheit und Jugend und Lehrjahre gehen.
Kinder erziehen heißt, ihnen in Obhut Zeit lassen, dass sie wachsen,
sich mit Träumen füllen, eine Erziehung genießen, die auf
mehr hinarbeitet als nur auf Brauchbarkeit durch andere. Erziehung, die zu
wenig gibt, ist Diebstahl; die zuviel gibt, könnte Mord sein (Ruth Cohn),
es ist Anleiten der Söhne und Töchter Gottes, mit ihren jeweiligen
Gaben zum eigenen Weg zu gelangen. Letztlich müssen wir uns selbst erziehen,
selber unser Stück Leben beackern.
Dieses Wissen: Alles hat seine Zeit, und wenn es die richtige Zeit ist, dann
kommen die richtigen Worte. Jesus ließ sich Zeit zu wachsen und zuzunehmen
an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen. Ein oder drei Jahre
hat er dann öffentlich gewirkt. Und den Himmel uns auf die Erde geholt.