Keitumer Predigten Traugott Giesen
23.05.1999
Pfingsten
Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit (2. Korinther 3, 17).
Gratulieren wir uns ruhig mal zum Geburtstag der Kirche � Pfingsten
ist ja das erste große Chri-stentreffen überhaupt. � Aus dem
rückwärtsgewandten Freundeskreis wird die Denkschmiede für
eine menschliche Zukunft. Sie werden getauft mit Geisteskraft. Und gesandt
in alle Welt: �Macht zu Jüngern Jesu alle Menschen.� Also Volk und
Familie, Ehe und Verwandtschaft, Stand oder Klasse, Bildung oder Besitz
wird alles zweitrangig, gemessen an der wunderbaren Berufung: Du Kind Got-tes,
Du Bruder, Schwester des Jesus, Du beatmet vom Heiligen Geist.
Die römisch-katholische Kirche hat ja mit ihrer lateinischen Messe
Jahrhunderte zeigen wollen, daß die wahre Muttersprache aller Menschen
die Kirche spricht � also die Nationen kommen und ge-hen. Und Familie,
wichtig, wichtig, aber einzelne Christen als Priester oder Nonnen sind
zu Höhe-rem berufen, sie legen ihren weltlichen Namen ab und bekommen
eine neue Widmung.
So ist es nach Protestantensicht nicht gemeint aber schon recht: es
gibt was Wichtigeres in der Welt als meine kleine Familie, mein Name, mein
Zuhause, mein Volk, mein Ich. Es zieht durch uns alle der Heilige Geist,
der Strom Gottes, wovon wir alle Rinnsale sind. Wir sind Gottes Depots
in der Welt, unsere Begabungen sind uns ausgeteilt von seinem Schatz.
Jeder hat Teil am Schatz des Unbewußten. Jede Nacht träumen
wir alle in den gleichen Bildern, Flucht, Schutz, Feuer, Haus, Mutter,
Vater. � Und Gott, Gott ist das gemeinsame Guthaben aller Menschen, woher
wir kommen, worin wir sind, wohin wir münden. � Ein gutes Ganzes umgibt
und hält uns, dich, mich. � Wir blühen alle aus der einen Erde,
wir lassen uns lieben von der einen Sonne, wir werden angetrieben von dem
einen Geist, der sich in uns verkörpert.
Der Geist, der sich in uns verkörpert, ist Teil der Weltseele.
Jeder Mensch ist eine gestaltgeworde-ne Idee des Ganzen. Warum aber so
verschieden, so in Konkurrenz bis hin zum Zerstrittensein und Krieg?
Erstmal: Was ist, ist da, weil sich die Urenergie verströmen will,
zuletzt auch in einige Milliarden Menschen. Die Sterne verkörpern
die ungeheure Leuchtkraft, die Pflanzen die ungeheure Gestalte-lust, die
Tierwelt seine Phantasie und die Menschheit verkörpert doch seine
Du-Lust. Kann das sein, daß Gott den Menschen sich zum Bild schafft,
uns zu seinen kleinen Ikons macht, und seine Liebe und Sehnsucht und sein
Austauschenwollen und Denken in uns wirken läßt; wir also kleine
Filialen seines Geistes sind � natürlich sehr verdünnt durch
Hunger und Gier. Und wegen der Aus-stattung mit einem Quantum Willens-Freiheit
auch fähig zu verneinen und querzutreiben und den Rest der Welt herauszufordern
wie ein trotziges Kind. Kann das sein, daß wir Gottes Kinder sind
und sein Geist in uns sich mit uns unterhält � und wir hören
dann Gottes Stimme, zum Beispiel im Gewissen, wenn einer unsere Hilfe braucht,
und wir wollen uns drücken? Oder hören Gottes Stim-me in dem
Trost, wenn Mutter uns tröstet: Heile, heile Segen, wird doch wieder
gut. Dann nehmen wir das doch als Versprechen Gottes, und wenn uns einer
liebt, dann ist er über sein kleines Indivi-duelles hinaus Engel und
Wohltäter.
Kirche ist so lebenswichtig, weil sie verbürgt die Gotteshaltigkeit
des Menschen, und unsere Ver-wandtschaft untereinander, und daß wir
unser Selbstbewußtsein vom Himmel nehmen, vom Le-bendürfen,
von der Geistbegabtheit � nicht aus unserer Schlagkraft oder Kaufkraft.
Kirche ist le-benswichtig, indem sie uns ernennt zum Prokuristen über
Gottes Wirken � und so werden wir ein-ander in Obhut gegeben, einander
doch ans Herz gelegt, einander zum Hüter bestimmt.
Aber was ist mit unserer Differenzierlust, warum unsere Neigung, besonders
zu sein, Besonderes zu haben? Der schönste Garten, die schickste Krawatte,
die leckerste Küche, das eleganteste Ge-schenk? Die schönsten
Enkel?
Wir verdanken uns der Tatsache, daß sich Gott entfaltet. Wir
sind Folgen von Seiner Entfaltelust und haben diese Entfalte- und Differenzierlust
mitbekommen. Und darum Nichts zu sagen gegen die Lust an Farben und Mode,
schnellen Autos, schönem Wohnen; � aber nicht nur zu neuen Sa-chen
� sondern viel Mut auch zu neuem eigenem Erproben und Lernen und Erkunden,
zu neuer Freundschaft und neuen Gedanken: Welch ein Glück etwa die
Wahlfreiheit der persönlichen Le-bensführung.
Doch wüßten wir die Göttliche Herkunft unserer Entfalte-Lust,
dann könnte ich dem andern sein Entfalten lassen, seine Denkart, seine
Prägung, seine Vorlieben. Ich muß nicht seine dröhnende
Musik im Zugabteil gutheißen, aber � ich war mit 12 Konfirmanden
einen Tag in Hamburg, und auf der Rückfahrt hatten wir einen halben
Waggon alleine, und sie machten einen Heidenlärm � und ich setzte
mich weit weg und riet jedem Passagier, doch einen Wagen weiter seine Ruhe
zu finden. Also Entfaltelust ja, Lebensfreude je mehr desto mehr Lobe den
Herrn auch. Aber meine Armfrei-heit endet vor deiner Nase � leben und leben
lassen ist der nicht auslernbare Lernstoff.
Wie fremd die Bräuche und Denkweisen des andern sind. � Eben hatte
ein Iraner an einer Taufe teilgenommen, und ich fragte ihn, ob in seiner
Heimat ein Kind auch so festlich begrüßt wird? Und da sagte
er, sie feierten den Abschied mehr � und wir die Ankunft. Und ich gewahrte,
mein Denken ist nicht die Wahrheit sondern eine Melodie der Wahrheit wie
sein Denken. Mein und sein Denken sind Sorten des Möglichen, sind
Dialekte der einen großen Verstehe- und Differenzierlust Gottes.
� Das ist dann die Geburtsstunde der Toleranz, dies Merken. Paulus sagt
es so: Wo der Geist Gottes ist, da ist Freiheit. Da bist du freigelassen
und sprichst andere frei.
Es gibt keine Verworfenen.
Damit kommt die andere Lust Gottes in den Blick � neben Entfaltung
das Vereinen, das Versöh-nen, das Friedenschaffen. Auch in uns eingehaucht
ist diese Lust, uns zu gesellen und zu verei-nen, mit einem eine Höhle
zu bauen, und viele um einen Tisch zu sammeln, einen Chor zu bilden, eine
Stadt zu bauen, ein Netzwerk. � Vielleicht ist das Internet die globale
Kirche der Zukunft: wo jeder sein Wissen veröffentlicht und jeder
es abrufen kann. Und dann ist das Copyright nicht mehr beim Erstdenker
sondern im Netz ist es wieder Wissen aller.
Auch in uns in einem Winkel die Lust zum Zwangsvereinen, alles hört
auf mein Kommando, die Lust an Meinungsführerschaft und Kontrolle
� ins Grauenhafte gesteigert durch Uniformierung und Kolonnenbildung, ein
Volk, ein Reich, ein Führer, Vereinigung durch Verschlingen oder Ausrotten
� jetzt im Kosovo. � Ach komm Heiliger Geist, komm als Freude am Anderssein
und Gemeinschaft-haben.
�Was ist? Was siehst du mich so an? Entsetzen, Fragen, fürchten
wir den Überfall des fremden Anderen? Ach komm, Heiliger Geist, als
Freude, mich zu verstehen zu geben. Und plötzlich erfährt einer
durch den andern soviel Unbekanntes von sich selbst.
Komm Heiliger Geist, feg den Argwohn aus, vom Leben weniger geliebt
zu sein, stärk in uns das Gottesdepot: Du gut, du lustig zum Guten.
Begeistere uns, laß uns deine Stimme vernehmen, die uns einzeln,
je nach dem, anredet und aus-zeichnet, die mich zu mir ernennt, mich mir
vorhersagt und mir meinen Weg des eigensten Sein-könnens verheißt
(Sloterdijk). Gratulieren wir uns zu Kirche, zu heiligem Geist. Amen.