Keitumer Predigten Traugott Giesen
06.06.1999
Letzten Sonntag besprachen wir die Heilung des Blinden. Diese Geschichte
weist uns an, selber einander die Augen zu öffnen, einander zu ehren,
einander zu erhellen durch Wahrnehmen, daß unsere Augen wenig Geringschätzung
ausschütten, eher liebkosen, was sie betrachten, aufmerksam und mit
Ehrerbietung. Jesu legt dem Kranken Spucke auf die Augen, salbt ihn mit
Nähe. Er schien nicht über Geheimwissen zu verfügen. Jesus
nahm die Heilkraft der Kinder Gottes in Gebrauch. Er geht uns nur voran
in dem Zutrauen, heilsam sein zu können. So ist auch dieser Gottesdienst
ein Training in Heilkraft, dem Jesus nach.
Es hat uns nicht geholfen, Jesus so himmlisch-jenseitig erhöht
zu sehen, daß wir ihn nur anbeten konnten. Damit haben wir Christus
geradezu gelähmt, haben ihn angebettelt, statt ihn zu unterstützen.
So ähnlich machen es verwöhnte Kinder: Papa, Mama macht das schon.
Aber Jesus will uns in seiner Nachfolge, nicht vor ihm auf den Knien, sondern
mit ihm Hand in Hand.
Nehmen wir mehr Lernstoff aus einer anderen Heilungsgeschichte des
Jesus (unter Zuhilfenahme von Eugen Drewermann: Jesus von Nazareth).
Markus 5, 1 - 20. Und sie kamen ans Ufer des Sees in die Gegend der
Gerasener.
Und als er aus dem Boot trat, lief ihm alsbald von den Gräbern
her ein Mensch entgegen mit einem unreinen Geist,
der hauste in den Grabhöhlen. Und niemand konnte ihn mehr binden,
auch nicht mit Ketten;
er war oft mit Fesseln und Ketten gebunden gewesen und hatte die Ketten
zerrissen und die Fesseln zerrieben; und niemand konnte ihn bändigen.
Und er war allezeit, Tag und Nacht, in den Grabhöhlen und auf
den Bergen, schrie und schlug sich mit Steinen.
Als er aber Jesus sah von ferne, lief er hinzu und fiel vor ihm nieder
und schrie laut: Was willst du von mir, Jesus, du Sohn Gottes, des
Allerhöchsten? Ich beschwöre dich bei Gott: Quäle mich nicht!
Denn er hatte zu ihm gesagt: Fahre aus, du unreiner Geist, von dem
Menschen!
Und er fragte ihn: Wie heißt du? Und er sprach: Legion heiße
ich; wir sind viele.
Und er bat Jesus sehr, daß er sie nicht aus der Gegend vertreibe.
Es war aber dort an den Bergen eine große Herde Säue auf
der Weide.
Und die unreinen Geister baten ihn und sprachen: Laß uns in die
Säue fahren!
Und er erlaubte es ihnen. Da fuhren die unreinen Geister aus und fuhren
in die Säue, und die Herde stürmte den Abhang hinunter in den
See, und sie ersoffen.
Und die Sauhirten flohen und verkündeten das in der Stadt und
auf dem Lande. Und die Leute gingen hinaus, um zu sehen, was geschehen
war,
und kamen zu Jesus und sahen den Besessenen, wie er dasaß, bekleidet
und vernünftig, den, der die Legion unreiner Geister gehabt hatte;
und sie fürchteten sich.
Und baten Jesus, aus ihrem Gebiet fortzugehen.
Als er dann in das Boot trat, bat ihn der Besessene, daß er bei
ihm bleiben dürfe.
Aber er ließ es ihm nicht zu, sondern sprach zu ihm: Geh hin
in dein Haus zu den Deinen und verkünde ihnen, welch große Wohltat
dir der Herr getan und wie er sich deiner erbarmt hat.
Und er ging hin und fing an, in den Zehn Städten auszurufen, welch
große Wohltat ihm Jesus getan hatte; und jedermann verwunderte sich.
Ein volkstümlicher Schwank ist hier auf Jesus übertragen,
Stoff aus fernem Heidenland, wo man Schweine züchtete; vielleicht
zuerst auf Jesus übertragen um die Hemmungen abzubauen, in der Ferne
zu missionieren.
Aufregender ist uns das apokalyptische Bild der wildgewordenen Schweine,
es könnte auch eine Kuhherde voll Rinderwahn sein � Menschen schütten
ihren Mist, ihre Habgier in die unschuldige Kreatur.
Doch tiefer noch rührt mich die Schilderung des einen in Not.
Daß Jesus diesem sich zuwendet, sich auf diesen Menschen innig einläßt,
das laßt uns bedenken.
Ein Mensch haust nah am Tod, auf Friedhöfen. Vorn fern denk ich
an die ausgeweinten Großstadt-Kinder, Grufties, schwarzgewandet zelebrieren
sie in aufgelassenen Friedhöfen ihre makabren Treffen. Die Bürger
erschrecken, und aus deren Widerwillen ziehen sie eine fade Schadenfreude:
Wenn die Spießer uns hassen sind wir okay. Sie laufen von Zuhause
weg, um keinen Zwang ertragen zu müssen.
Der in den Gräbern erlebt Menschen nur als Kettenanleger, als
welche, die ihn einfangen wollen in Bindungen, bandagieren in Ordnungen.
Ständig meint er vor ihnen auf der Hut sein zu müssen. �Auf der
anderen Seite sehen wir natürlich, wie innerlich unfrei dieser Mensch
in seiner radikalen Einsamkeit und Kontaktscheu in Wahrheit ist. Wie ein
verängstigtes Tier flieht er von weitem schon die Nähe der Menschen;
dann aber, in den Bergen, schreit er unartikuliert und ungezielt um Hilfe:
und der Haß gegen sich selbst ist so groß, daß er, wie
in einem unablässigen Bußritual, mit Steinen auf sich einschlägt�
(Drewermann).
Hier wird ein Leben in seiner Ausweglosigkeit und Tragik mit wenigen
Strichen gezeichnet. Menschenferne und Gottesferne starren. Einfach trostlos,
schon wie aufgegeben, ist er in einem Niemandsland. Und wartet nicht mehr,
erwartet niemanden mehr?
Aber er läuft auf Jesus zu, von weitem schon, stürzt jedoch
nicht, wie in frommen Wundergeschichten üblich, kniefällig bittend
vor ihm nieder, ihn von seiner Qual zu erretten. Statt dessen schreit er:
Jesus solle aufhören, ihn zu quälen. Sie, die Dämonen, und
er, das Kind Gottes, wären zwei Welten. Da tut sich eine Schicht von
Verlorenheit auf, die verzweifelter nicht sein kann: So viel Zwang und
Ketten und Benutztwerden, soviel Ausgebeutetsein � und das Schlimmste:
Keine Hoffnung, kein Traumbild von Rettung, kein Notruf, kein Bitten, Suchen,
Ahnen, daß Verwandlung noch möglich sei, keine Neugier mehr
� nur Versteinerung, mit der er sich selbst zudeckt. Das bekannte Unglück
scheint besser als das unbekannte Glück. � Geh mir aus den Augen,
laß mich in Ruhe, schreit der Kranke den Jesus an. Und vielleicht
schreit er schon nicht mehr, sondern winkt nur müde ab.
Das kann uns auch passieren, so defensiv, abwiegelnd umgehen mit Unerträglichem.
Man hat sich arrangiert mit seinem Elend, ist gewissermaßen kompetent,
weiß, den andern zu nehmen, auch Schläge kommen und gehen. Heilung
könnte Zusammenbruch und völlig mit leeren Händen dastehen
bedeuten. Wiederherstellung kann Neues fordern, Veränderung kann Angst
machen.
Jesus, trägt Markus nach, hat selber Angst gemacht: Er hat zunächst
frontal versucht, durch einen Machtbefehl die Dämonen zu vertreiben.
Doch hat er nur den Aufstand der Hölle erreicht. Selbst ihm, dem Sohn
Gottes gehorchen die bösen Geister nicht prompt.
Als müßte auch Jesus noch gelernt haben, macht er einen
zweiten Anlauf. Vorher befiehlt er rigoros, herrisch, anherrschend; jetzt
schaut er, hört, lauscht, fragt: �Sag, was ist dein Name, wer bist
du?� Jesus nimmt bei ihm Platz, lädt ihn ein, sein Leben zu erzählen,
interessiert sich für ihn, nimmt ihn wahr, nimmt ihn so wichtig, daß
der Mensch sich selbst wichtig nehmen darf. Erzähle mir, wer du bist,
wie du so geworden bist, bitte.
Erschütternd die Antwort: Legion ist mein Name, viele sind wir.
Er weiß vom eigenen Selbst nichts; sieht ein Kollektiv an ihm, in
ihm fuhrwerken � ein Bündel von Stimmen und Gieren, ein Durcheinander
sich übertönender Kommandos. � Wer bin ich: Viele, es gibt kein
Ich.
Die Dämonen bitten, in die Schweine fahren zu dürfen. Das
ungeheure aggressive Potential nach außen leiten, das kann ein Bild
sein, daß die niemals zugelassenen Triebe mal von der Leine gelassen
sein müssen. Danach sitzt der eben noch Besessene ruhig da. Was dazwischen
passiert, ist ja ein langer Weg der Selbstannahme: Zunächst muß
man wohl seine verhaßten Anteile von sich abspalten, sie auf andere
laden � und Therapeuten, Eltern, zur Übertragung sich hinhaltende
Menschen beschimpfen, ihnen alles Böse aufladen, mit Eiern und Farbbeuteln
Autoritäten verhöhnen, Eltern beleidigen � das kann so ein Schritt
sein, erst mal sich wieder zu finden. Bis man dann auch erkennen kann,
daß zum Schatz der eigenen Person auch die Schatten und Versuchungen
gehören.
Jesus paßte den Leidenden nicht an, sondern befreite ihn zu sich
selbst.
Andere, die vorher den Gestörten in Ketten legen wollten � haben
Verlust durch sein Heilwerden. Sie komplimentieren Jesus schleunigst hinaus.
�
Jesus besorgt ihm Freiheit, er will sich anschließen. Jesus weist
ihn ab, er soll zurück zu den Seinen, um ihnen zu sagen, was Gott
an ihm getan hat. Und kann so eine ganze Freiheitsbewegung ins Rollen bringen:
Eben nicht Anpassung sondern ein eigener Mensch werden, bei sich selbst
heimisch. Du, nimm dich als gute Landschaft des liebreichen Willens Gottes
an, werde einverstanden mit dir selbst. Und merk das als große Tat
Gottes.
Wahrscheinlich ist gerade der Besessene dieser Geschichte nicht von
Jesus geheilt worden sondern in der frühen Christenheit von einem
anderen. Aber eigentlich richtig, daß es Jesus in die Schuhe geschoben
wurde. � �Wer euch hört, der hört mich� sagt Jesus (Lukas 10,
16) � der heutige Wochenspruch. Er ist tatsächlich der Erste, der
so hoch von der Person eines Jeden gesprochen hat, der jedes Kind als Himmelreichbesitzer
pries, der Jeden sieben mal siebzig mal der Vergebung wert hielt. Er ging
dem Verlorenen nach, wie ein Hirte dem verlorenen Schaf und trug den Verirrten
auf seinen Schultern heim zu sich selbst.
Klar, daß diese Wunder unsern Heilungsfundus ins Licht setzen
will. Jesus verkörpert gottvoll das Menschliche. Er war kein Gott
sondern ein Mensch wie wir, aber für ihn küßte sich Gott
die Finger: Das ist der wahre Mensch, der den Nächsten auch als wahren
Menschen erkennt, unter wieviel Verzweiflung auch immer verborgen, der
das Zuhören erträgt, bis aller Eiter der Erfahrung raus ist;
der die Sprache und den Spürsinn hat, den andern zu sich nach Hause
zu leiten. Jesus ließ ein Wohlwollen leuchten auf den Andern, und
der lernte langsam sich zu mögen an Hand von Jesus. Und so wir auch
einander. Amen.