Traugott Giesen Kolumne 12.05.2001
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Kinder sind ein Wunder
Ein Menschenkind ist eine neue Welt. Ohne dieses
Kind wäre es die alte Welt, auch nicht schlecht, aber eben fast leer,
wie wenn ein Kontinent versunken wäre. Ein Kind ist so viel Anfang,
ist pure Zukunft. Mit diesem Menschlein wird der Zeithorizont achtzig Jahre
weiter ausgerollt. Wieder mehr Erfahrung mit Wirklichkeit wird zum Menschschatz
gehören.
An Größerem können wir nicht
mitwirken, als einem Kind auf die Welt zu helfen und es ihm hier heimisch
zu machen; ihm sein Ich zu stärken und ihm zu zeigen, dass es geliebt
und gebraucht ist. Eltern werden gewürdigt, dem Kind die ersten Engel
zu sein. Die dafür sorgen, dass Gefahren und Forderungen den Kräften
gemäß auf das Kind zukommen. Die es anleiten, was als gut und
böse zu gelten hat.
Eltern dürfen die Welt noch mal neu denken
mit den Augen ihrer Kinder. Was schon fraglos abgetan schien, etwa dass der
Mond mal dick ist und mal dünn, das wird durch die Kinderfrage wieder
brennend. Mit dem Kind mitdenken, holt die eigene Erinnerung zurück
an überwundene Ohnmacht und frühes Glück.
Das emsige Lernen zu rollen, zu sitzen, sich
zu erheben, zu stehen, zu gehen, Schritt für Schritt, das Laufenlernen,
das ungezählte Hinfallen und einmal mehr Stehenbleiben ist als Mutmachbild
unerschöpflich.
Auch wie es in Jahren sich das Sprechen aneignet,
ist eine Schöpfung für sich. Das Heben der Stimme am Satzende klingt
wie ein Lied. Das Kind redet mit, macht sich geltend, bestimmt mit, kann
schon bald die Wirklichkeit färben nach Wahl seiner Worte.
Miterleben dürfen und müssen, wie
das Kind seine traumhafte Sicherheit verliert. Es war ein geleitetes Wesen,
eigenständig und voll Imagination - dann muss es normal werden. Von
anderen Kindern in die Realität gepufft, lernt es, dass ihm nicht alles
einfach zusteht, es übt das Nehmen und Geben, lernt den Jargon des
Überlebens.
Kinder machen fromm, sie lassen "so was wie
Gott" erforderlich scheinen. Kinder verlangen übermenschliche Obhut,
brauchen oft genug auch Schutz vor ihren irdischen Beschützern. Man
muss als Mutter, Vater oder Ähnliches wissen, dass Kinder zugemutet
und anvertraut sind vom Herz der Welt. Bei klarem Kopf kann man nicht auf
eigene Kappe Kinder wollen, ihnen das Wesen aus eigenem Erbgut zumuten. Und
hinter jeder Ecke lauern Gefahren. Kinder sind Gabe und Aufgabe Gottes, sie
können erbeten, aber nicht hervorgerufen werden. Kinder sind Wunder.
Wir waren auch mal welche, wir werden es wieder, nahe bei Kindern.