Traugott Giesen Kolumne 23.06.2001
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Wie leben mit dem Tod eines
Kindes?
Stirbt uns ein Kind, dann schmerzt das ohne
Ende, es reißt an uns, wir halten uns für schuldig, nicht achtsam
genug gewesen zu sein. Und fragen uns, warum dies junge Blut davon musste
und nicht wir, die Eltern, warum nicht die Alten.
Wir sind wie Beraubte, wir hätten so gern
das Kind heranwachsen sehen. Jetzt ist es für immer "bis hierher und
nicht weiter", und wie freudevoll war sein Lachen, sein Jauchzen, seine ersten
Schritte, sein Verständigsein. Zu gern hätten wir erlebt, wie es
Jahr um Jahr zulegt an Alter und Wissen und Können. Überhaupt war
das das Schwerste, der kleine Sarg, die kalte Erde, dies Weggehen müssen,
das Alleinlassenmüssen. Gern wäre man selbst stattdessen gestorben,
ist ja auch mitgestorben, blieb abgestorben lange Zeit.
Doch das Leben ging weiter. Und was damals
unmöglich schien, ist geschehen: Langsam wurde uns der Tod unseres Kindes
aus dem Mittelpunkt gerückt. Erst kreisten alle Gedanken um das Fehlen,
dann wurde der Kreis größer, es schoben sich andere Gedanken
dazwischen. Inzwischen leben wir auf unbeschreibliche Weise mit dem Kind,
auch wenn wir ganze Tage nicht von ihm sprechen. Das Kind ist als Abwesendes
bei uns. Wir haben einige Fotos über die Wohnung verteilt, wir haben
seine Sachen verschenkt an ein Kinderheim in unserer Nähe, zu dem wir
auch Verbindung bauen wollen. Inzwischen ist es unser guter Engel. Manchmal
treffen wir einen jungen Menschen, der unserm Kind ähnlich sieht - und
wir sagen dann: Ja, so könnte es jetzt aussehen. Wir sind sicher, dass
es ist, vorhanden ist, nicht weit weg, vorweggenommen wo es herkam. Und der
es herschickte, der hat es wieder gerufen, wir wissen nicht warum, aber wir
wissen es im Guten.
Ein Bild hat sich uns eingeprägt: Ich stehe
an der Küste. Vor mir entfaltet eine Jacht ihre weißen Segel.
Sie gleitet im Wind hinaus auf den Ozean, und irgendwann sehe ich sie nur
noch als eine kleine weiße Wolke am Horizont. Da ruft jemand: Sie ist
verschwunden! Verschwunden? Nur aus meinem Blick. Sie ist noch genauso
groß, wie sie es war, als sie mich verlassen hat. Und in dem Moment,
wo ich rufe: Sie ist fort! wird an anderer Stelle gerufen: Da ist sie! So
ist das Sterben.
Sicher wären wir gern uralt mit ihm geworden,
und es hätte uns begraben, aber sein Lachen, sein Weinen, seine Hände,
sein Antlitz, seine kurze Spanne Zeit waren ein großes Glück für
uns. Und wir hatten kein Recht auf sein Hiersein. Unermesslich sind wir beschenkt
worden und unsere Seele ist reich geworden an Trauer und Dank. Wir sind mehr
wir selbst geworden. Und unsere Weltsicht hat sich geweitet. Wir hatten einen
Gast vom Himmel. Der hat uns leben gelehrt, dann konnte er wieder nach Hause.
Wir können uns unser Kind als heil vorstellen. Aber manchmal, da weint
es einfach aus einem heraus.