Traugott Giesen Kolumne 25.08.2001
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Euer Kind ist besonders heilig
Viel Tränen, Leiden, Traurigkeit ist um
euch Eltern und euer Kind mit seinem Zurückgebliebensein. Ihr kämpft
um seine Fortschritte, ihr wart oft im Krankenhaus mit ihm, ihr habt die
lieblos-törichten Blicke und Fragen eurer Mitmenschen aushalten gelernt.
Und einzigartig ist eure Wonne, weil mit Wehmut verschmolzen. Die Zeichen
seines Glückes könnt ihr lesen und ihr staunt vor diesem Kosmos
einzigartiger Begabungen.
Ja, euer Kind kann einiges nicht, was anderen
leicht ist; oder es muss sich mühen bei Abläufen, die anderen wie
von selbst gelingen. Einiges wird es gar nicht können. Aber dieser Mensch
ist noch einzigartig wunderbarer als die Anderen alle.
Ihr habt das Kind angenommen aus der Hand des
Lebens, des Schicksals, Gottes. Hoffentlich habt ihr es taufen lassen, weil
man es dann "schriftlich" hat: "Gott liebt dich und braucht dich, genau dich.
Und deine Eltern sind die ersten Engel, die ersten Mitarbeiter Gottes für
dich. Und es sind gerade diese Eltern, denn sie haben und können, was
du brauchst. Sie bestätigen dir: Gut, dass du da bist und dass du du
bist. Und sie werden dir gut sein, aber sich darüber nicht vergessen."
Die Taufe in der christlichen Gemeinde ist ein starkes Bild davon, dass wir
zusammengehören, viel mehr als wir mit unsern je eigenen Portemonnaies
und eigenen Mägen gewöhnlich erleben. Ein Kind mit Behinderung
hat ganz besonders alle zu Geschwistern. Wenn wir nur mehr unser Herz sprechen
lassen.
Das ist noch zusätzliche Aufgabe der Eltern.
Bitte, zeigt unverwandt euer gutes Gesicht. Wenn andere abweisend dem Kind
begegnen, bekehrt sie von der falschen Bauformel, alles sei machbar und wir
seine Herren der Gene. Dagegen setzt eure Liebe, zu diesem, genau diesem
Kind, das nimmermehr dieses wäre, wenn es anders wäre; das, auf
die Waage gelegt, schwerer wöge als der Rest der Welt.
Schwierig dazu ist die Ungewissheit über
die weitere Entwicklung. Da hilft nur, heute an heute zu denken. Morgen,
nächstes Jahr, in zwanzig Jahren tut sich die Hilfe auf, die dann dran
ist. Es ist unglaublich, wie viel Liebe in der Menschheit steckt und sich
herausstellt, wenn die Not da ist. Jeder ist auf andere angewiesen, wir alle
brauchen die Hilfe aller. Und jeder Mensch hat seine Gaben, die genau für
seine Aufgaben richtig sind.
Wir brauchen einander, wir mehr oder weniger
Behinderte. Und wer ist denn kranker, der Kranke, oder der, der, meint, das
Schicksal bleibe ihm erspart durch Vermeiden der Nähe. Die durchschnittliche
Ungeduld gegen Leiden ist doch nahe am Wahn, und ganz verrückt ist es
zu meinen, man könne sich Leid ersparen, indem man es aus seinem
Gesichtskreis verbannt. Dabei kann man viel für sich lernen, wenn man
Eingeschränkt-Lebenden nah bleibt. Ihre Kompetenz für ihre Lage
ist allermeist riesig und sie schöpfen den Rahmen ihrer Kräfte
beispielhaft aus.