Traugott Giesen Kolumne 15.09.2001
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Leben dürfen
Groß ist die Lust zu helfen bei vielen
Entronnenen in New York und Washington. Sie wollen Blut spenden oder vom
Hort nicht abgeholte Kinder bergen, räumen auf, suchen Vermisste und
stärken Verwitwete. Diese Lust zu helfen, irgendetwas Aufbauendes und
Sinnstiftendes zu machen, ist in uns allen. Denn wir sind alle Entronnene.
Wir hätten in den zu Rammböcken umfunktionierten Flugzeugen sitzen
können, wir hätten eben dort ins Büro treten können,
wo Sekunden später die Feuerwalze alles totschlug. So nah neben dem
Chaos haben wir vielen uns wohl noch nie gefühlt, nicht nur die Passagiere
des Fluges nach Hamburg, die jene ins Center einschlagende Maschine
sahen.
Das Wissen, mich hätte es genauso treffen
können, hatten wohl noch nie so viele Menschen gemeinsam - außer
im Krieg, wenn wir denn der Gnade der frühen Geburt teilhaftig wurden.
Aber auch wenn wir bei einem Unfall davonkamen, ist dieses tiefe Dankgefühl
da, noch hier sein zu dürfen. Warum gerade ich noch leben darf und leben
soll und leben kann, müssen wir fragen.
Denn wir sind ja auf Antwortgeben geeicht. Wir
sind zur Verantwortung gezogen. Wir wissen, dass wir geschickt sind ins Leben
und unser Pensum tun müssen. Wir sind nicht aus Quatsch hier, aus blinder
Chemie. Darum ist jeder Tod sehr persönlich. Meine Wirkzeit ist dann
zu Ende, bin hier fertig, ich werde hingerückt in eine andere Zeit.
Was mir hier nicht mehr gelingt, bleibt andern vorbehalten. Und ob ich dann
einigermaßen rund geworden bin hier, etwas zu Stande gebracht habe,
vielleicht sogar einem Kind Eltern sein durfte und Zeit hatte, seine Kompetenz
wachsen zu sehen, ob ich lieben durfte und geliebt wurde innig, ob ich Freude
gemacht habe hier, und einige einen guten Nachgeschmack an mich haben - für
die vielen Umgekommenen ist das alles fraglich. Hoffen wir für sie,
dass sie im Frieden sind, ergänzt um alles, was hier noch ausstand,
und "gekrönt mit Gnade und Barmherzigkeit".
Aber für uns ist noch Werdezeit. Wir sind
noch vom Leben in die Mangel genommen, du, ich sollen noch hier sein, unfassbar,
warum, ja warum sollst du, soll ich noch hier sein? Ich will es einfach ganz
fest wissen: Ich soll hier sein, um noch mehr ich selbst zu werden, mehr
zu lieben, Freude zu machen, Freude zu haben, Chancen zu geben. Ich soll
eine gute Investition ins Leben sein, soll keinem das Hiersein zur Strafe
machen. Und kann noch anders werden. Dazu lebe ich noch, dass ich etwas ganz
Bestimmtes noch betreibe, noch kennen und schätzen lerne, noch wieder
gutmache, mindestens einen Dünkel noch loswerde. Wir dürfen noch
hier sein. Hiersein ist herrlich. Oder mach es dir wenigstens bekömmlich
oder doch wenigstens erträglich. Und hilf einem, wenigstens einem, mit
sich selbst einverstanden zu werden.
Wir leben auch noch, um Übergriffe zu
beschränken. Bitten wir um Weisheit, die innere Unruhe nicht mit Gewalt
zu übertönen.