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Traugott Giesen Kolumne 20.10.2001 aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg

Du sollst nicht ängstigen

Es ist genug Mühe in der Welt, schon viel zuviel Druck, Bedrängung, Verzweiflung. Und die Rechnung geht nicht auf: Angst loswerden, indem man Angst macht. Das Wettrüsten hat nicht Ruhe geschaffen. Jeder muss noch mehr Waffen haben, die Reichweiten vergrößern. Mit Überlegenheit ist es wie mit Geldbesitz - er macht süchtig. Genug ist nie genug.

Und darum beruhigt kein Depot, kein Vorsprung, kein Bunker. Wir können Angst nicht loswerden, indem wir ängstigen. Das aber ist der Wahn der Trittbrettfahrer. Sie wollen ihre kindliche Angst loswerden, indem sie andere in Angst jagen; wollen die Großen spielen, indem sie die anderen zappeln sehen. Vielleicht sind sie mal zu Tode erschreckt worden und wollen sich heilen, indem sie andere hilflos sehen, sich aber für sehr mächtig halten.

Angsteinjager verfallen zweifachem Wahn: Aus dem Zittern anderer schließen sie auf ihre Stärke. Dabei verstecken sie vor sich selbst, dass sie böse handeln. Sie denken nicht nach, sind kindisch wie verrückt. Ganz früher mag das angegangen sein. Die Kinderstreiche sind noch nah: Im Treppenhaus die Sicherung ausdrücken, das Licht verlöscht, das Geschrei der Mutter mit Kind ist groß. Oder die auf dem Lehrerstuhl ausgestreute Heftzwecke, und man juchzt, wenn der Erwachsene unbeherrscht auffährt. Oder wie einer vom plattgestochenen Fahrrad absteigt und verärgert aufgibt. Die unfairen Päppelungen des Kinderegos haben doch ihre Zeit. Das weiße Pulver im Briefumschlag versandt, das ist ein anderes Kaliber.

Anderswo wird der Tod ins Haus geschickt mittels solchen Zeugs. Und keiner weiß die Absender, keiner die Gründe, die Ziele. Weil keiner weiß, wer die echten Viren verschickt, und warum, ist jeder Umschlag mit Pulver ein Angriff auf unseren Alltagsglauben, unseren Lebensmut.

Bis eben haben wir ein Weltvertrauen gehabt, das religiös lautet: "Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag". Es trug uns, fast alle, auch, wenn wir kirchlich nicht gebunden waren. Doch nach den Anschlägen vom 11. September und den wahllosen Giftbriefen sind wohl alle geängstigt.

Aber man meine doch nicht, die Angst los werden zu können, indem man sie mehrt. Kriech nicht auf den Leim der irren Schadenfreude an Krachen und Schreien, wenn von der Brücke die Steine treffen. Lass dich nicht gelüsten, in Schrecken zu jagen.

Wir alle bekommen umso mehr Angst, je weniger wir begreifen. Angst glaubt an die unwahrscheinlichsten Zufälle, und plötzlich sieht man sich von Verschwörern umzingelt. Wir sind alle schon ziemlich aufgeregt, viele wittern überall Zerstörung, trauen sich weniger raus, meiden Menschen. Es ist, als fräße Säure an unserer Lebensfreude.

Wir dürfen Unheil nicht mehren, auch nicht zum Schein. Wie viel Menschenmühe zurzeit lahmgelegt und vergeudet wird, ist fürchterlich. Bestärken wir einander das Vertrauen: Gut, zu leben - trotz allem.


 




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