Traugott Giesen Kolumne 18.11.2001
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Volkstrauer - ein guter Tag
Einige Kalendertage sind imprägniert mit
gemeinsamem Gefühl. Der Sonntag ist allemal besonders; auch wer nicht
zur Kirche geht, genießt das Nach-innen-gekehrt-sein und die allgemeine
Ruhe. Die großen Feste des Jahres gründen in Jesu Geburt, Tod
und Auferstehen, alle sind Aufbruchsfeste; wir werden mit nach vorn gezogen.
Und Pfingsten verheißt Heiligen Geist, dessen wir alle bedürfen.
Dann gibt es noch spezielle Sonntage, etwa Erntedank, Totensonntag und Advent
- und eben Volkstrauertag.
Wir werden (wenn es der Fall ist) als Teil der
deutschen Bevölkerung angesprochen, aber anders als am 3. Oktober. Da
dürfen wir uns in Nationalfreude sonnen und sollen die Versöhnung
von Ost und West in Deutschland durch Nachdenken fördern.
Volkstrauertag aber spricht uns als gemeinsame
Erben einer fürchterlichen Herkunft an. Wir, unsere Eltern oder unsere
Großeltern haben Adolf Hitler gewollt oder geduldet - jedenfalls nicht
verhindert. Und haben damit die unmenschlichste Gesellschaft der Menschheit
hergestellt. Gott sei Dank verlöschte der Spuk nach zwölf Jahren
und sechzig Millionen Toten. Und immer noch leiden wir an den Sünden
dieser Zeit: Die Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Kultur
fehlen uns. Dank den Wenigen, den Aufrechten, die noch und wieder Deutsche
sind. Millionen Frauen blieben zeitlebens verwitwet und Millionen Kinder
wurden ohne Vater, ohne Eltern groß, und wie viele Alpträume stecken
noch in Menschen. Wie viel Schrecken von Verfolgung und Qual bedrängen
die Seelen alltäglich. Und was haben wir uns schwer getan, den wenigen
noch lebenden Sklavenarbeitern ein wenig Trostgeld endlich zukommen zu lassen.
Ich bin gern Deutscher, wäre sicher auch gern Franzose oder Pole, oder
Ire. In welches Land mich Gott eingesät hätte, wenn ich gern dort
ich sein dürfte bei herzlichen Mitmenschen, wäre ich sicher auch
dort gern Landsmann. Ich finde es schön hier, die Sprache, die Musik,
die Medien, die Landschaften, das Klima, viele aufgeweckte Menschen - sie
passen mir gut. Auch bin ich froh über das wachsende demokratische
Bewusstsein hier, die Spendenfreudigkeit, die lebendigen Kirchen, die Gott
zeitnah verstehen, und dass so viele Menschen in Not bei uns Asyl suchen
und nicht wir aus Hunger in die Fremde flüchten müssen wie Millionen
Deutsche früher. Aber besonders am Volkstrauertag will ich auch trauern
mit denen, die Deutschlands Opfer wurden, die an Deutschland litten und
zuschanden wurden. Und wer noch kein Konzentrationslager aufgesucht hat,
der sollte sich einem solchen Ort der von Deutschen erstellten Finsternis
unterziehen.
Ich will an diesem Tag um mein Volk und mit
meinem Volk trauern, auch in Kenntnis von Gebüßtem und
Wiedergutgemachtem und der Freude über keimende Freundschaft zu den
Menschen der Nachbarländer. Ich danke allen Politikern, die stellvertretend
unsere Sünden bedenken und im Zusammenhang mit den jetzigen Katastrophen
unseren unbedingten Friedenswillen klarstellen.