Traugott Giesen Kolumne 18.1.1997 Hamburger Morgenpost
Vitamin Neugier
Diese wachen Augen des Kindes! Und die Händchen greifen und grapschen
und kneten und streicheln was ihnen unter kommt. Kaum zu bändigen ist
der Kleine auf der Reise, die letzten drei Bankreihen im Bus sind sein Revier.
Einen nach dem andern bestürmt er, strahlt ihn an. Dem mit dem abgespannten
Gesicht zaubert er neue Lebensgeister in die Seele, der Zeitungsleser legt
sein Blatt weg, die bepackte Dame kramt einen Apfel vor; und die Schülerin,
eben erst der Kindheit entwachsen, sichtlich um gleichgültige Haltung
bemüht, ist schnell in ein Fangen-Spiel verwickelt. Hin und her eilt
das Kind und sammelt Lachen und Zuneigung. Die Mutter schaut erschöpft
und glücklich das Schauspiel an: Ihr Kind schaufelt den Leuten Lebensmut
zu, Freude ist anfaßbar - kurz vor Feierabend ein kleines Wunder.
Ob dieser Mensch seine Neugier sich bewahren kann? Lernelust ist ein kostbares
Talent, gefördert durch Ernstnehmen der Kinderfragen: Warum weinst du
Mutter? Wohin geht die Sonne nachts? Warum habt ihr Streit? Warum müssen
die Tiere, die Menschen sterben? Eigentlich gibt es keine blöden Fragen,
nur blöde Antworten. - Hoffentlich halten wir unsern Kindern und einander
das Feuer des Interesses am Glühen.
Natürlich hat jeder das Recht auf sein Geheimnis. Und wir sollten dem
Nächsten sein Persönliches schützen helfen, sollten unsere
Nase nicht in andrer Leute Privates stecken. Ich habe mich schon dabei ertappt,
wie ich einem fremden Telefongespräch bei einer zufälligen
Fehlschaltung lauschte; als es spannend wurde, zwang ich mich dann endlich
zum Auflegen. Also, Neugier hat Grenzen: Was wir für uns behalten wollen,
sollen wir von anderen auch nicht erkunden.
Vieles müssen wir für selbstverständlich nehmen, sonst kommen
wir zu gar nichts. Aber Staunen ist gut. Merken ist wichtig. Allein die Gesichter
der Vorbeieilenden sind Antlitze, manchmal geschnitzt und mit Heiligenschein,
oder sind ein einziger Schrei um Erbarmen. Jeder Mensch ist ein Versprechen
und eine Bitte, ihm Hüter zu sein. Schau ihm nur in die Augen, und
Geschichten fangen an zu geschehen, wenn die Zeit dazu reif ist. -
Voll Exotik ist das Normale: Ein Grashalm, ein Eiskristall, ein Gedicht,
ein Bild im Museum. Und wie funktioniert ein Videorecorder? Daß ich
immer noch ganze Tastenreihen nicht benutzt habe, ist doch schwach. - Und
daß du Nachbarn nicht mit Namen kennst, ist auch schwach.
Im Alter schwinden die Kräfte. Auch die Lust auf Neues wird schwächer.
Doch der Lebensfunke Neugier soll mich noch über die Todes-Schwelle
ziehen, das wünsch ich mir - auch um nicht so zu klammern.