Traugott Giesen Kolumne 01.02.1997 Hamburger Morgenpost
Warum Entlastung für Reiche?
Wir leben in einem teuren Staat; die sozialen Sicherungen, die Straßen,
Unis, Schulsysteme, Justiz-, Regierungsapparate und Kultur sind relativ in
Form. Die Vereinigung ist ein Glücksfall, der bis jetzt 200 Milliarden
gekostet hat und noch viel Zuschuß fordert. Die Bundesrepublik ist
ein freundliches und in vielem günstiges Heimatland mit großer
öffentlicher Aktivität. Das hat seinen Preis.
Diesen Preis müssen alle Bürgerinnen und Bürger untereinander
teilen. Und auf einmal wird der Spitzensteuersatz von 53 auf 39 Prozent
erniedrigt. Ob einer achtzigtausend DM verdient oder x-mal soviel, dem Staat
genügt gut ein Drittel - das ist ein Hohn auf den Grundsatz der Besteuerung
nach Leistungsfähigkeit.
Je weniger einer verdient, um so schmerzlicher ist ihm jeder Abzug. Wer von
13.000 DM 19,5 Prozent Steuern abführt, muß Mark für Mark
sparen an Zeitung, Brötchen, Kinobesuch. Aber die zwei- oder
dreihunderttausend verdienen haben mit einem Schlag 13 Prozent mehr für
sich, obwohl niemand sie dringend braucht. Jeder hat schon Auto und Eigenheim
und Aktienpakete. Nur jede Mark der Armen geht sofort in den Verbrauch, beschafft
also auch Arbeitsplätze. - Die Gelder der Reichen treiben die Aktienkurse,
was noch keine Arbeit schafft, und die Zweitwohnungspreise auf Sylt, was
auch noch keine neue Arbeit bringt, da nicht mehr hinzu gebaut werden soll.
Einiges Geld wird auch neue Arbeitsplätze schaffen, aber sicher nicht
soviel wie sie wegen der geringeren Steuereinnahmen im öffentlichen
Dienst gekappt wurden.
Muß man die schonen, die viel verdienen - sonst haben sie keine Lust
mehr, viel zu arbeiten und damit viel zu erwirtschaften -? Nein, in diesen
Gehaltshöhen arbeitet man nicht mehr wegen ein paar Scheinen mehr. Da
will man zusätzliche Ehre, Freiheit, Macht - arbeitet mehr, weil es
Spaß macht, oder weil man sich berufen fühlt, oder weil man wie
im Sport an der Spitze sein will. Nicht, daß man das zusätzliche
Geld nicht wolle - Geld ausschlagen gilt als unanständig dem, der mal
sehr mühsam die ersten Einnahmen erkämpfte. Aber die Steuerersparnis
bringt den Wohlhabenden keinerlei Zugewinn an Freiheit oder Bequemlichkeit
oder Freude. Bisher konnte der Wohlhabende wenigstens stolz sein, Staat -
und die Kirche - ein gutes Stück zu finanzieren, auch das ist jetzt
dahin.
Die Reichen haben eigentlich nicht sehr um Entlastung gebeten; nach dem Motto
"leben und leben lassen" denken sie meist sozialer als die Regierung es ihnen
zutraut. Die Großmütigen werden die Ersparnis nehmen und in eigener
Verantwortung viel Gutes damit tun. Freiraum verpflichtet. Not ist ja genug.
Warum aber die Entlastung? Ich verstehe die Regierung nicht. Das Jesuswort
hat sie nicht begriffen: "Wem viel anvertraut ist, von dem wird viel verlangt."