Traugott Giesen Kolumne 02.08.1997 aus Hamburger Morgenpost
Wenigstens ein Pastor sollte doch....
Ein Pastor unter Mordverdacht dient der Zeitung mit den großen
Buchstaben als Hauptmeldung. Daß ein Geistlicher seine Frau umbringen
könnte, allein schon der Verdacht ist sensationell. Niemals käme
ein unbekannter Arzt zu diesem zweifelhaften Schlagzeilenruhm. Aber ein
Pastor, der seine liebende Frau erschlüge � das wäre ein Alptraum,
das zieht viel Boden unter den Füßen weg. Denn wir brauchen
Vorbilder. Wir brauchen Menschen, die das Leben bestehen ohne Mord und
Zerstörung. Die uns zeigen, daß eine Ehe haltbar sein kann und
man auch ohne Straftat sein Auskommen hat.
Aber woher nehmen die Mustergültigen? Menschen der Öffentlichkeit
haben es schwer, ihre dunklen Seiten zu verbergen. Zu viele Augen warten
auf den Fall der Hochstehenden. Machtfülle ist verlockend � wer täte
denen da oben nicht gern einen Gefallen. Um so auffälliger, daß
der Kanzler bei allem, was man ihm an Tricks sonst nachsagt, ein leuchtendes
Vorbild für Nicht-persönliche-Vorteilsnahme im Amt ist; und Ministerpräsident
Rau scheint rundum redlich zu sein. Aber den Politikern insgesamt wird
mit Skepsis begegnet. Noch am verehrtesten sind die eigenen Eltern. Ihre
Fehler schönt man lange. Doch von Pastoren erwartet man reine Westen,
saubere Talare.
Wenigstens die Diener Gottes sollen noch leben, was sie glauben. Und
sie glauben doch hoffentlich an einen guten Schöpfer, der uns ausreichend
gut geschaffen hat mit genügender Nächstenliebe. Wenigstens ein
Pastor sollte doch die Ordnung hüten, für die er Ordnungshüter
ist.
Und wenn der/die es nicht schaffen, die so viel mit Bibel und Beten
zu tun haben, wer dann. Sie werden doch geradezu vom Kirchenvolk bezahlt
dafür, daß sie, wenigstens sie, ein �anständiges Leben�
führen. Alle anderen dürfen anscheinend Sünder sein, nur
die Geistlichen sollen doch bitte sauber bleiben.
Dabei gesteht man auch den Geistlichen Sehnsucht und Lebensfreude zu;
aber bitte, ihr wenigstens lebt euer Personsein ohne schmutzige Wäsche
in der Öffentlichkeit. Ihr habt soviel Selbstbeherrschung aufzubringen,
daß ihr kein Chaos anrichtet.
Doch gerade Pastoren brauchen viel Heiligen Geist und viel Vernunft
und Liebe/Geliebtsein. Diese Stoffe des Glücks sind auch im Pfarrhaus
nicht von Amts wegen vorhanden.
Gerade, wer viel vom Menschen weiß, wer in den Wust der Gefühle
anderer Leute vorgedrungen ist, der kann auch von der Wucht des Bösen
mitgeschleift werden. Pastoren kennen den Wurzelgrund vieler Verzweiflungstaten:
Liebe erzwingen, Verzicht als Niederlage werten, Schuld verstecken, Neid
und Gier. Sie können auch verschlungen werden von Kälte. Die
Botschaft kann ihnen ausgegangen sein, auch Seelsorger können seelisch
verschmachten. Sie sind mindestens so bedroht und auf Vergebung angewiesen
wie andere auch. Beten wir füreinander, Pastores inklusive.