Traugott Giesen Kolumne 16.06.2001
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Wären wir doch zum Kirchentag
gefahren
Spaß hätten wir gekriegt mit vielen
wachen Christen. Diese Mischung aus Nachdenken und Spiel ist einzig. Sie
reden mit Wildfremden und sind ganz bald vertraut. Sie fühlen sich sehr
verantwortlich für das, was passiert. Und wollen verstehen. Sie fliehen
nicht vor den Problemen in Blödeleien, sondern strotzen fast vor
Zukunftsmut, sie wissen um die Brüchigkeit unseres Zusammenlebens und
suchen der Gesellschaft Festigkeit zu geben. Sie erzählen sich aus ihren
Gemeinden Projekte von Freundschaft und Angstabbau und Geldbesorgen. Sie
genießen die Inszenierungen von gestalteter Religion. Sie lauschten
Giora Feidmanns juchzender Klarinette und dem Afrikanischen Trommelfeuerwerk.
Sie hörten bei Rezzo Schlauch eine Bibelarbeit und Karl Lehmann über
Wahrheit. Sie grübelten über Chancen und Schrecken der Gentechnik
und der Globalen Wirtschaft. Sie besuchten den Markt der Möglichkeiten
mit Hunderten von Initiativen und aßen und tranken auf hessisch und
international. Sie sangen in den Bussen und U-Bahnen. Sie feierten das
schöne, schwere, wunderbare Leben. Und wir waren nicht da.
Die Überschriften der drei Tage Intensivkur
Christentum lauten: In Vielfalt glauben, in Würde leben, in Freiheit
bestehen. Damit sind die Herzthemen von uns allen aufgeschlagen. Und wir
hätten hingehen sollen. Dann hätten wir aus dem Vollen schöpfen
können, hätten sicher mehr Verständnis für andere
Glaubensarten mitgebracht, einfach weil so ein großes Familientreffen
bisher unbekannte Verwandte mit ihren Denkweisen auftut.
Und in Würde leben - vielleicht hätten
wir mehr Durchblick jetzt, wüssten mehr von Asylsuchenden oder
verständen uns selbst besser; würden gelernt haben, uns die Würde
nicht immer und immer wieder selbst zu schänden. Und ín Freiheit
bestehen ist überhaupt unser Lebensauftrag: wie wir die Freiheit des
anderen schonen und unseren Spielraum ausschreiten, in der Politik, beim
Gelten und Geltenlassen.
Wir hätten hin gesollt nach Frankfurt.
Aber erstens haben wir Hiergebliebenen auch gedacht in dieser Zeit. Zweitens
haben die Teilnehmer für uns was mit aufgeschnappt. Jeder guter Gedanke,
wenn der erst mal gedacht und ausgesprochen ist, dann setzt er Wissen an
beim Ganzen.
Wichtig, daß der Kirchentag ist. Er ist
ein geistvoller Durchlauferhitzer für unser Land, wie es keinen anderen
gibt. So intensiv, fröhlich, gedankenreich, melodisch und einladend,
so Jung und Alt verbindend, kommt kaum ein anderes Ereignis daher. Es geht
ein Schuß Lebensmut durchs Land und küsst so manche müde
Seele wach.
Die Losung dieses Treffens heißt: "Du,
Gott, stellst meine Füße auf weiten Raum". Diese Gewissheit in
Leuchtschrift auf meine Stirn geschrieben, werde ich großzügiger
denken und handeln. Was sperrt noch ein? Wen hältst du klein? Dir Weite
in die Seele!
---
Von Traugott Giesen frisch erschienen: "Gott
weiß. Zwölf Anregungen für Lebensmut", ISBN 3-87173-220-6,
Radius-Verlag, 29 DM.