Traugott Giesen Kolumne 07.07.2001
aus "Die Welt" Ausgabe Hamburg
Sich das ewige Leben nehmen
Wir sollen leben. Dieser Befehl ist uns eingebaut:
Wir müssen essen, trinken, wieder aufstehen, an ein Werk gehen, uns
und andere ernähren, immer wieder, bis uns die Kräfte schwinden
und wir alt und lebenssatt geworden sind. Es kann uns auch früher von
hier wegziehen. Es kann sein, dass wir uns hier nicht mehr ertragen, aus
Schmerzen des Leibes und der Seele. Dann reißen wir uns von hier weg,
wie Heinrich v. Kleist, der ging, "weil mir auf dieser Erde nicht zu helfen
war".
Es ist eine Auszeichnung sondergleichen, dass
der Mensch nicht leben muss. Tiere müssen ihr Dasein fristen, Pflanzen
wesen und verwesen ohne Willen, nur der Mensch ist geadelt, mit
Einverständnis hier zu sein. Natürlich musste Selbsttötung
früher mit einem Bann belegt sein, sonst wäre die Menschheit wohl
längst ausgestorben bei den Strapazen zu überleben. Mord und Selbstmord
nahmen dem Schöpfer was von seinem Besitz.
Aber Elia legt sich erschöpft hin, isst
nicht mehr, trinkt nicht mehr und will von hier weg. Ihn weckt ein Engel,
nährt ihn und beauftragt ihn neu. König Saul ist von Traurigkeit
erfüllt, die nur kurz von Davids Saitenspiel verscheucht wird, letztlich
stürzt er sich doch in sein Schwert und wird betrauert. Judas "warf
die dreißig Silberlinge des Verrates in den Tempel und erhängte
sich", doch in der Kirche zu Vezelay, in Burgund, zeigt ein Säulenkopf
die wunderbare Szene: Jesus trägt den toten Judas auf seiner Schulter,
trägt ihn heim wie ein verlorenes Schaf.
Wir müssen nicht leben. Wir sind eingeladen,
hier ein Stück Schöpfung mitzugestalten, ja, den Garten Eden zu
bebauen und zu bewahren. Das Leben lohnt uns mit viel Freude. "Der dich
erhält, wie es dir selber gefällt, hast du nicht dieses
verspüret?" - dieser Lobgesang gelingt doch, wenn auch nicht alle Tage.
Auch ist nicht ausgemacht, wie wir von hier wegkommen. "Wenn mir gleich Leib
und Seele verschmachtet, bist du Gott doch alle Zeit, meines Herzens Trost
und mein Teil" - singt Psalm 73. Ist das nicht ein Freispruch, nach drüben
mich zu sehnen, wenn ich hier nicht mehr kann?
"Das Leben soll keine Straf sein, die Nacht
soll für den Schlaf sein" (Bert Brecht). So ist das Hiersein gemeint,
als dennoch Lebbares. Aber wer vor Schmerz nicht mehr aus noch ein weiß
und stürzt sich aus der Welt in Gottes Arme, wie würde Er nicht
auffangen und heil machen? Wichtig, dass wir trösten und lindern. Aber
wenn ein Herz hier keinen Halt mehr findet, dann geht es ja aus Sehnsucht
auf Besseres.
"Auch der Selbstmörder hat nicht den Willen
zum besseren wirklichen Leben verneint, sondern einzig paradox mit fortlaufender
Lebensbejahung nur die Bedingungen verneint, unter denen ihm dieses Leben
geworden ist" (Ernst Bloch). Ein Trost, dass wir nicht leben müssen,
sondern uns das ewige Leben nehmen, ja herbeizerren können, in
größter Not. Aber lassen wir keinen einfach gehen, hängen
wir uns an ihn, stärken wir einander das Flämmchen Lebenslust.