Traugott Giesen Kolumne 04.01.1997 aus Hamburger Morgenpost
Die Zeit muß sein
Beim Volkslauf, einem eher lokalen Ereignis, feuerte die Dame einen
erschöpften Läufer dermaßen aufputschend an, daß dieser
anhielt. Er nahm das Gesicht der Jublerin in beide Hände und verpaßte
ihr einen Kuß. Sie wehrte ab: "Laufen Sie, was bringt das für
Verluste!" Der Sportler preßte heraus: "Die Zeit muß sein."
Als das Konzert zu Ende war, die Künstler hatten ihr Bestes gegeben,
brandete Beifall auf. Einige hatten es eilig, meinten auf ihr Klatschen
käme es nicht an, drängten schon zum Ausgang. Doch mit graziler
Geste hin zu den sich tief Verbeugenden hielt einer sie auf: "Danken - die
Zeit muß sein".
Zur Silbernen Hochzeit will ein Geschwister nicht kommen: Es geht auch so,
die haben doch den Kopf voll mit ihren Nachbarn. Doch einer sagt: "Kommt
mit, wenn sie schon einladen, gebt ihnen die Ehre. Die Zeit muß sein."
Sagte zu mir die alte Dame, bei der ich vorgab, noch so viel Wichtiges
vorzuhaben: "Pastor, keine Zeit? Setz dich hin, dann hast du Zeit."
Wofür ist sie uns denn gegeben, die Zeit, wenn nicht dafür, daß
wir bei einander Zeit lassen, uns lassen beim andern, mit ihm für eine
Spanne uns austauschen, Freude und Leid teilen, ein Stück Arbeit tun,
eine Zigarettenlänge, einen Kaffee, einen Spaziergang, ein Leben lang
uns mögen. Dreimilliardenmal schlägt das Herz im Leben; 100.000
mal pro Tag. Wofür schlägt dein Herz? Arbeiten, um sich und andere
zu ernähren; und für einen Garten, ein Stück Land? Wenn man
schon die Welt nicht retten kann, dann will man doch ein Stück Erde
bebauen und bewahren. Oder Menschen zufrieden machen als Kunden, als Patienten,
als Mandanten. Wer mit dir zu tun bekommt, soll gestärkt gehen. Die
Zeit muß sein.
Erlebst du dich mit andern mürrisch, argwöhnisch, explosiv, ausgelaugt,
dann mußt du mit dir zu Rate gehen, wie mit dem Kraftstoff Zeit du
besser umgehen willst. Prioritäten setzen ist das Zauberwort. Was uns
mehr oder weniger wichtig ist, dafür haben wir mehr oder weniger Zeit.
Sicher hat jeder sein Quantum Unabweisbares; hat Handicaps, Verpflichtungen.
In den Tag hineinleben und eben das machen, wonach einem jetzt gerade der
Sinn steht, dies Kindlich-Glückliche gelingt wohl nur in knapp bemessenen
Urlaubszeiten. Freie Zeit und leere Zeit ist ein großer Unterschied.
Wir wollen gebraucht werden, Arbeit hat ihre Würde. Doch zur eigenbestimmten
Zeitverteilung sollte man kommen. Darüber nachdenken, was mir wirklich
wichtig ist - die Zeit muß sein, besonders zu Beginn des neuen Jahres.